Archiv der Kategorie: Fokus 2017

Interview mit Dr. Benno Gammerl

Wir haben ein Interview mit Dr. Benno Gammerl geführt. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für Bildungsforschung.

  • Was ist der Stand der Forschung über die Kontinuitäten des Paragraphen 175 nach dem Nationalsozialismus?

Die Situation Männer begehrender Männer in den 1950er und 1960er Jahren erfreut sich erst seit einigen Jahren zunehmender Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt aufgrund der schlechten Presse, welche die „Homophilen“ der Nachkriegsdekaden bei den Wortführern der Schwulenbewegung hatten, waren sie lange in Vergessenheit geraten. Die rechtliche Entwicklung in Ost und West zwischen 1945 und 1969 ist mittlerweile zumindest in groben Zügen dokumentiert, ähnliches gilt für die Strukturen der polizeilichen Verfolgung und für die Nicht-Anerkennung homosexueller KZ-Häftlinge als Opfer des NS-Regimes. Was nach wie vor weitgehend im Dunkeln liegt sind die politischen Bemühungen der „Homophilen“ um Anerkennung und Entkriminalisierung sowie vor allem der Alltag Männer liebender Männer in dieser Zeit: Wie gingen sie mit Verfolgung und Diskriminierung um? Wie schafften sie es, trotz alledem subkulturelle Strukturen zu etablieren? Wie gestaltete sich homophiles Leben und gleichgeschlechtliches Begehren zwischen Ängsten und Hoffnungen, „Josephsehen“ und Bahnhofstoiletten, Gefängniszellen und Theaterlogen?

  • Was sind Ihre Gedanken über das Projekt von Justizminister Maas und die Diskussionen über die Rehabilitation für die Opfer von Paragraph 175?

Es ist ausgesprochen erfreulich, dass die Kriminalisierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens im allgemeinen und die verschärfte Fassung des § 175, die die Entgrenzung und Intensivierung der Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich und in der frühen Bundesrepublik ermöglichte, von offizieller Seite nun endlich als ein fundamentaler Verstoß gegen die Menschenrechte gebrandmarkt werden. Christine Lüders, der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes

, gebührt große Anerkennung dafür, dass sie diese Debatte maßgeblich vorangetrieben hat. Dem Rechtsstaat bietet sich so die Gelegenheit, kritische Perspektiven auf seine eigene Geschichte zu entwickeln, und sich von dem begangenen Unrecht zu distanzieren. Und die Männer, die verurteilt wurden, können auf eine – wenn auch reichlich späte – Wiedergutmachung hoffen. Allerdings richtete der § 175 auch jenseits von Gefängnisstrafen großen Schaden an. Beziehungen gingen kaputt, Menschen wurden gekündigt, gewalttätige Angriffe waren keine Seltenheit, manche sahen nur im Freitod noch einen Ausweg. Wie will der Gesetzgeber dieses Leid, für das er letztlich verantwortlich war, entschädigen?

  • Glauben Sie, dass dieses Projekt die Diskussion über den Paragraph 175 im deutschen öffentlichen Raum widerspiegelt?

Ich denke, vielleicht ist es auch eher eine Hoffnung, dass der überwiegende Teil der deutschen Öffentlichkeit heute eine Kriminalisierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens für moralisch nicht vertretbar erachtet und ablehnt. Insofern vollzieht die politische Debatte über Rehabilitierung einen Meinungswandel nach, der sich im Lauf der letzten ungefähr dreißig Jahre vollzogen hat. Was mich mitunter überrascht ist, wie wenigen Leuten die Tatsache bekannt ist, dass die Entkriminalisierung der Homosexualitäten im Wesentlichen ein Verdienst der späten DDR ist. Erst 1994 im Zuge der Angleichung des west- und des ostdeutschen Strafrechts stimmte auch der Bundestag der endgültigen Abschaffung des § 175 zu. Wahrlich kein Ruhmesblatt des bundesdeutschen Rechtsstaats.

© F.K Schulz
© F.K Schulz

 

Harald Christ, Statement zum Paragraph 175

Harald Christ, langjähriger Unterstützer und Förderer des TEDDY AWARD, zur Rehabilitierung der Opfer des  §175 StGB.

Der TEDDY AWARD – der queere Filmpreis der Berlinale und das Humboldt Forum laden ein:

DER PARAGRAPH 175 STGB – UNRECHT IM RECHTSSTAAT
Ein Werkstattgespräch im Humboldt Forum

Datum 14. Februar 2017
Uhrzeit 19:00 Uhr, Einlass: ab 18:30 Uhr
Ort: Musterraum des Humboldt Forums auf der Schlossbaustelle – Eingang Süd, Schlossplatz, Ecke Breite Straße
Eintritt frei

Anmeldung

Wir bitten um verbindliche Anmeldung bis zum 13.02.2017. Aufgrund limitierter Kapazitäten können wir Ihnen einen Sitzplatz nur garantieren, wenn Sie Ihre Karte am Veranstaltungstag bis 18:45 Uhr abholen. Für spontane Gäste steht ab 18:45 Uhr ein begrenztes Kartenkontingent an der Abendkasse zur Verfügung.

Partner

Eine Veranstaltung des TEDDY AWARDs und des Humboldt Forums im Rahmen der Berlinale 2017.

§175 Ein Überblick

Liebe Cinephile,

um die Jahrtausendwende erkannte der TEDDY, wie wichtig das kulturelle Gedächtnis ist, und prämierte den Film „Paragraph 175“ von Rob Epstein und Jeffrey Friedman, eine hervorragende Dokumentation über das verhängnisvolle deutsche Gesetz, das Homosexualität unter Strafe stellte. Fast zwanzig Jahre später haben Historiker umfassend dokumentiert, wie Homosexuelle zur Zeit des Nationalsozialismus litten, und viele kämpfen um das Gedenken an die Opfer. Viel weniger bekannt ist das Schicksal zahlloser Homosexueller nach dem Krieg, die empörende Kontinuität dieses Unrechts vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik.

In diesem Jahr geht es um den Kampf der Mitglieder unserer Gemeinschaft in diesen dunklen Zeiten, aber auch um diese schreiende Ungerechtigkeit, die noch immer eine offene Wunde der jüngeren deutschen Geschichte ist. TEDDY nutzt die Dynamik der aktuellen Diskussion über die Rehabilitation und Entschädigung der Überlebenden und der Opfer des § 175. Wir konzentrieren uns auf den ungerechten und schändlichen Umgang mit Homosexuellen in Deutschland nach dem Krieg bis zur vollständigen Aufhebung des Gesetzes in den 1990er Jahren.

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