Es ist bereits Halbzeit bei der Berlinale und die Zeit verging wie im Flug. Trotzdem haben wir noch einige Filme, die ihre Premiere heute feiern.
Falls ihr bei den Premieren nichts für euch findet, sind unten wieder unsere Reruns aufgelistet.
Außerdem haben wir heute einige Events für euch geplant. Heute finden zwei unserer Directors Exchange´s statt zu Themen „Time after time, club culture and the concept of time in Queer Cinema“ und „Journeys of rebellion and truth, Trans* narratives as tools of unapologetic self-representation.“. Falls euch das noch nicht genug ist findet heute außerdem unser TEDDY Talk: QueerWeb Part 1 statt. Mehr zu den Veranstaltungen findet ihr hier.
Durch Zufall kreuzen sich eines Tages wieder ihre Wege: Alice, inzwischen eine international gefeierte Cellistin, hat eine Reihe von Auftritten in dem Konzerthaus, in dem Jo arbeitet. Zehn Jahre sind vergangen seit ihrem Jahr als Stipendiatinnen in einem exklusiven Mädcheninternat tief in der australischen Wildnis. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Unabhängigkeit, Stärke, Resilienz standen dort im Mittelpunkt sowie die Verbindung zur Natur und die Gemeinschaft unter den Schülerinnen. Die Schlafquartiere waren in abgelegenen Holzhütten untergebracht, die Mädchen in ihrer Freizeit weitgehend sich selbst überlassen. Zur schüchternen Alice fand Jo zwar schnell eine Verbindung, doch sie wollte keine Außenseiterin bleiben und wandte sich den hierarchisch höhergestellten Mädchen um die dominante Portia zu – so erinnert sich zumindest Jo. Doch Alice konfrontiert sie mit einer völlig anderen Version der Ereignisse. Basierend auf Rebecca Starfords gleichnamigem Buch erzählen die Autorinnen Pip Karmel und Magda Wozniak sowie Regisseurin Corrie Chen packend und schonungslos, wie der Wunsch dazuzugehören eine ebenso grausame wie folgenreiche Dynamik in Gangsetzen kann.
Regie: Silvia Del Carmen Castaños, Estefanía “Beba” Contreras USA, 2023, 77′ TEDDY nominated
„Ich möchte mich an dieses Mal erinnern, an letztes und an nächstes Mal. Ich will mich an alles erinnern, ohne Lücken, denn ich schätze auch die schlechten Zeiten.“
Laredo im Süden von Texas, nahe der mexikanischen Grenze: Die Freund*innen Silvia und Beba wissen, dass die langen Sommernächte ihrer Teenagerjahre nicht ewig andauern. Die Orte, an denen sie abhängen, sind ihnen längst vertraut, aber das Einwanderungsverfahren stockt, und immer droht die Abschiebung. Heimat ist im politisch gespaltenen Amerika kein verlässlicher Begriff. Zwischen Bars, Drive-ins, Sofas von Freund*innen und dem öden Grenzland kämpfen sie gegen die Zumutungen des Alltags, für ihre Community und die Zukunft. Für sie bedeutet das auch: demonstrieren für das Recht auf Abtreibung und gegen Gewalt durch den Grenzschutz. Aber die staubige Dämmerung bietet auch Raum für Poesie und Träume; in ihrem Humor und ihrer Kreativität zeigen sich die Bande von Zugehörigkeit und Solidarität.
Die Wohnung ist so hoch gelegen, dass der Lärm der Stadt kaum durchdringt: Das Rauschen des Verkehrs und der vorbeifahrenden Züge mischt sich mit dem Wind und der Lüftungsanlage, ein Dauerdröhnen im Hintergrund. Es zieht sich nur zurück, wenn die vierkubanischen Queers sprechen. Sie sind nie zusammen zu sehen, sprechen nur in ihre Telefone, und die Telefone antworten –Unterhaltungen mit Angehörigen, Verkaufsgespräche, Beratungen für Einwanderer, Geplauder mit dem Regisseur, Nachrichten, lippensynchron nachgesungene Popsongs, nicht immer angenommene Anrufe. In der Wohnung geben sie sich oft extravagant. Doch schon der Aufzug, der sie zu den Straßen Moskaus bringt, ist ein anderer Raum. Dort starrt man vor sich hin und vermeidet es, Aufmerksamkeit zu erregen. Russland und Kuba trennt so viel. Es ist schwer, keine Wehmut zu empfinden in einer menschenleeren, zugeschneiten Stadt. Und dieser Winter bedeutet nicht nur Dunkelheit, sondern auch Krieg und Krankheit, Zeichen der Zeit. Aber die Hoffnung wartet ruhig und geduldig am anderen Ende der Leitung. Heimat ist vieles auf einmal. Was sonst könnte sie jetzt noch sein? Ein kleiner Trost. Doch kein Trost ist zu gering: alles nach und nach.
Mangosteen erzählt die Geschichte von Earth, einem jungen Mann, der in seine Heimatstadt Rayong zurückkehrt, in der seine Schwester Ink eine Fabrik für Obstverarbeitung betreibt. Während eines beiläufigen Gesprächs erkennt Earth, dass seine Schwester und er grundlegend unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was mit dem Begriff „Zukunft“ gemeint ist. Je stärker er versucht, sich ins Fruchtsaftgeschäft einzubringen, desto stärker wird Earths Gefühl, dort nicht gebraucht zu werden. Er beschließt, sich aus dem Familienunternehmen zurückzuziehen und sein altes Hobby wieder aufzunehmen: die Arbeit an einem brutalen, psychologischen, irrationalen, abstrakten, blutigen und unrealistischen Roman. Mangosteen wechselt die Richtung seiner Erzählung genau wie die Sprachen, in denen seine Figuren sprechen, und beschreitet einen mäandernden Pfad durch Fabrikhallen und Obsthaine. Der Film wurde auf überholten Digital8-Videokameras gedreht und folgt keiner klaren Erzählstruktur. Die sprunghaften und überraschenden Eigentümlichkeiten seiner Protagonist*innen sind ebenso Gegenstandseiner Handlung wie das Erzählen selbst.
„Dieser Film hat sich seit 2020 über zwei Jahre hinweg entwickelt. Er entstand in Fragmenten und Intensitäten, entlang von Unruhe und Vorahnung, durch Umherstreifen und die Verweigerung zu verweilen. Der Film hat versucht, eine Sprache für und Wege durch die bizarren Verwerfungen sozialer und politischer Werte zu finden, die das Aufkommen des Faschismus in Indien und eine globale Pandemie hervorbrachten. Er hat darauf bestanden, zu den Dingen zu gehören, die sich dem Zerfall widersetzen. Die in Delhi gedrehten, unvollendeten Fiktionen erzählen von den Menschen, Orten und Protesten, die sich gegen die Sprache des Hasses stellen und sowohl die Trauer als auch die Euphorie der Stadt in sich aufnehmen. In ihnen finden sich die fortwährenden Echos einer gewaltvollen und prekären Gegenwart. Die falschen Abschlüsse und fragilen Zusammenhänge in diesem Video ergeben einen Zeitstrahl der Stadt, der sich mit der Zeit des Videos überschneidet. Eine schemenhafte Ahnung eines Protagonisten wird spürbar, der das alles ‚verträumt‘: Ein Fremder, der – wie sich herausstellt – überhaupt kein Fremder ist.“ Priya Sen
Regie: Amalie Maria Nielsen Denmark, 2023, 19′ TEDDY nominated
In einem Heim für Mädchen durchläuft Milo heimlich eine Transition. Nur Betreuer Nicki weiß davon und bietet Halt. Wenn Milo wütend ist, weglaufen will oder einen Tapetenwechsel braucht, sorgt Nicki für Sicherheit und Geborgenheit. Eines Tages bekommt Milo durch die dünnen Wände der Einrichtung etwas mit, das besser ungehört geblieben wäre. Nicht jeder Konflikt ist mit Umarmungen zu lösen, also drückt Milo den Alarmknopf.
Regie: Emory Chao Johnson USA, 2023, 19′ TEDDY nominated
Den eigenen Körper abtasten, die Transition beobachten und mit der Kamera dokumentieren. Was als audiovisuelles Tagebuch beginnt, entwickelt sich zur Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit. Es ist nicht einfach, aus dem Kokon auszubrechen, der aus mütterlichen Forderungen und Vorwürfen gesponnen ist. Besonders dann nicht, wenn der Körper als Familienangelegenheit betrachtet wird und für das Bedürfnis nach Autonomie das Verständnis fehlt.
Justina und ihre Tochter Alexia versuchen das riesige Haus, das die ehemalige Haushälterin von ihrer Chefin geerbt hat, zu erhalten. Aber die beiden indigenen Frauen haben keinerlei Rücklagen, um die Ausgaben für das verfallende Anwesen zu finanzieren. Der Onlinehandel mit den Einrichtungsgegenständen und der Verkauf der Rinder sind nicht mehr als Tropfen auf den heißen Stein. Zudem kommt die Familie der ehemaligen Besitzerin regelmäßig zu Besuch, die Justina und Alexia weiterhin wie Bedienstete behandelt. Alexia akzeptiert diese Rolle nicht mehr, sie will als Automechanikerin zurück in die Stadt und von dort als Rennfahrerin die Welt erobern. In einer Mischung aus dokumentarischen und mit Horror-Elementen inszenierten Szenen wird das Haus zum verwunschenen Schloss, das seine Bewohnerinnen nicht loslässt. Der spärliche Mobilfunkempfang wird zur Metapher für die Marginalisierung der beiden und ihren täglichen Kampf mit bzw. gegen die Lebensumstände. Die unüberwindbaren Klassengrenzen in Argentinien halten Justina in ihrer sozialen Schicht gefangen, auch nachdem sie Haus- und Landbesitzerin geworden ist. Ein märchenhaft düsterer Film.
O estranho, der Fremde, ist ein Ort: der Flughafen Guarulhos bei São Paulo. Von dort geht die Reise weniger durch die Welt als durch die Zeit. Auf indigenem Gebiet gebaut, hat der Flughafen die Landschaft komplett verändert. Manche Menschen sind gegangen, andere geblieben, sie arbeiten jetzt im Duty Free oder im Gepäck-Handling. Die Vergangenheit taucht in verschiedenen Formen wieder auf und fordert die Protagonist*innen heraus. Zum Beispiel Ale. Genau da, wo sie einst mit ihrer Schwester gespielt hat, im Flussbett, arbeitet sie heute den ganzen Tag. So wie der Beton die Vegetation bedeckt, die wiederum die Gräber bedeckte, so stapeln sich die Erzählungen. Sie nähren die Gedanken über das, was bleibt. Der Film, der sich zwischen Fiktion und Realität bewegt, betreibt eine minimale Form der Archäologie, in seinem Rhythmus enthüllt er die Bilder eines lebendigen Ortes. O estranho ist das zweite gemeinsame Projekt von Flora Dias und Juruna Mallon und zeigt ihr Interesse an Landschaften, Menschen und deren Zusammenspiel. Und daran, die Erinnerung aufrechtzuerhalten.
Regie: Mary Helena Clark USA, 2022, 19′ TEDDY nominated
Exhibition schöpft aus einer großen Sammlung von Bildern aus Filmen, Museen und Archiven und verwebt verschiedene Biografien und Texte zu einem einzigen imaginären Subjekt. Eija-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer heiratet die gleichnamige Berliner Grenzanlage und verwandelt ihr Zuhause in ein Museum für Architekturmodelle, um ihre Sehnsucht nach diesen Objekten zu stillen. Aus Protest attackiert Mary Richardson das Gemälde „Venus vor dem Spiegel“ von Diego Velázquez mit einem Messer und widmet den Angriff einer inhaftierten Suffragette. Die Erzählung wechselt in die erste Person und verbindet Zitate der Malerin Agnes Martin, frühe Studien zur Blickerfassung, Sigmund Freuds Krankengeschichte des „Rattenmanns“ und einen Bericht über den Missbrauch einer Kleinschen Flasche als Kerzenständer. Der Film fragmentiert, kopiert und exzerpiert und schafft so ein Porträt von Begehren und Grenzüberschreitung. Er wird zu einer Meditation über das Bekräftigen und das Ablehnen des Subjektstatus. „Ich bin keine Frau. Ich bin ein Türknauf.“
Das Phänomen, dass der Kontext, in dem Bilder gesehen werden, stets auch deren Wahrnehmung und Wirkung bestimmt, demonstriert eindrucksvoll das Künstler*innen-Duo Soda Jerk in seinem neuesten Werk Hello Dankness. Indem sie Szenen aus unterschiedlichsten Filmen in neue Zusammenhänge montieren, teilweise manipulieren und mit neuen Tonspuren verbinden, erschaffen Soda Jerk ein unerwartetes Narrativ über die tiefen Veränderungen in der US-amerikanischen Gesellschaft seit Trumps Präsidentschaft. Medienbilder aus den letzten Jahren, von den US-Wahlen 2016, der Pandemie oder der MeToo-Debatte werden gekonnt in Szenen aus Filmen wie American Beauty oder Wayne’s World montiert. Durch die spielerische Kombination mit Anleihen bei der Popkultur entwickelt der Film immer neue, aberwitzige Wendungen. Ausschließlich aus Found Footage haben Soda Jerk ein erfrischend anarchistisches und vielschichtiges Werk erschaffen, das Themen wie Fake News, Deepfake und Verschwörungserzählungen ebenso behandelt wie die Politik der Bilder: wie diese sich verbreiten, wem sie dienen bzw. schaden und wie sie permanent umgedeutet werden können.
Zwei Jahrzehnte nach der Bürgerrechtsbewegung begibt sich James Baldwin noch einmal an die historischen Schauplätze – von Selmaund Birmingham (Alabama) bis Atlanta (Georgia), zu den Stränden von St. Augustine (Florida) und zum Martin-Luther-King-Memorial in Washington, D. C. Auf dieser Reise der Erinnerung spricht er mit Freund*innen, Aktivist*innen und Schriftsteller-Kolleg*innen wie Amiri Baraka, Oretha Castle Haley und Chinua Achebe über die Ereignisse, die den Kampf gegen die Rassentrennung in Gang gesetzt haben, wie etwa die Angriffe auf Kirchen, die rassistische Polizei-Brutalität, Willkür und Unrecht, die die Schwarze Bevölkerung ertragen musste. Recht skeptisch blicken diese Lichtgestalten auf ihre Gegenwart und die wenigen Errungenschaften, die von damals geblieben sind; auch wir als Zuschauer*innen bekommen Gelegenheit, über unsere Ära nachzudenken. Dick Fontaine mischt geschickt Archivmaterialzwischen die Berichte. So wird der Film zu einem schmerzhaften historischen Dokument, das sich im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung als heute noch relevant erweist.
Kyiv 2022. In halsbrecherischem Tempo rast ein Auto im Morgengrauen durch die Stadt, gefilmt aus der Subjektive in einer Einstellung ohne Schnitt. Das zeitgenössische Remake von Claude Lelouchs C’était un rendez-vous beschreibt ein Lebensgefühl mitten im kriegsbedingten Ausnahmezustand.
Regie: Fabian Stumm Deutschland, 2023, 104′ TEDDY nominated
„Frag mich doch nicht, wie ich etwas finde, wenn du es gar nicht hören willst!“ „Ich will es doch hören, es stimmt halt nur manchmal nicht.“ Der Schauspieler Boris und der Schriftsteller Jonathan sind ein Paar. Doch ihre Beziehung ist an einem Punkt angekommen, an dem sie die gemeinsamen Abende auch getrennt verbringen könnten: Der eine liegt im Bett und liest Drehbücher, der andere arbeitet im Nebenraum am Schreibtisch. Während Boris sich immer tiefer in die Proben zu einem neuen Film mit einer ambitionierten Regisseurin wühlt und dabei reale und fiktive Charaktere zu vermischen beginnt, versucht Jonathan, seine Stimme als Schriftsteller neu zu definieren. Durch diese Tage des Ringens um Distanz, Nähe, Vertrauen, Verlangen und Verlustangst geistert, wie Puck bei Shakespeare, Boris’ kleine Nichte Josie und testet ihre Grenzen aus. Der Schauspieler Fabian Stumm legt mit Knochen und Namen sein Regie- und Drehbuch-Langfilmdebüt vor. Mit humor- und liebevollen Sequenzen in abgegrenzten, symptomatischen Settings (Schlafzimmer, Supermarkt, Übungsraum) komponiert er eine kluge und unterhaltsame Reflexion über Beziehungen.
Regie: Matthew Thorne, Derik Lynch Australien, 2022, 25′ TEDDY nominated
Derik Lynch, der den Yankunytjatjara angehört, reist in seine Heimat, um spirituelle Heilung zu finden. Er lässt die Unterdrückung, die er in der mehrheitlich weißen Stadt Adelaide erfahren hat, hinter sich und kehrt zu seiner entlegenen Anangu-Gemeinschaft (Aputula)zurück, um dort auf heiligem Boden eine Inma auszuführen. Erinnerungen aus der Kindheit begleiten ihn. Inma ist eine traditionelle Form des Geschichtenerzählens, bei der visuelle, verbale und physische Elemente zum Tragen kommen. Auf diese Art werden die AnanguTjukurpa – Geschichten, die mit dem Land, den Träumen, Mythen und Sagen verbunden sind – seit über 60.000 Jahren von Generation zu Generation weitergegeben.
April 2022 in Frankreich, die Präsidentschaftswahl geht in die letzte Runde und die Atmosphäre ist angespannt. Die Kellnerin Solène lässt sich durch die Nacht treiben. Sie nimmt Drogen, verletzt Gefühle und verliert immer mehr den Halt.
„In der Mitte des Sees haben wir manchmal eingefrorene Fische gesehen, wie aufgereiht nebeneinander. Ich dachte, die verbringen den Winter dort und wachen im Frühling wieder auf. Ich dachte, sie kehren zurück ins Leben und atmen wie zuvor.“
In einer Jugendstrafanstalt bereitet sich Joe auf seine Rückkehr in die Gesellschaft vor, unsicher, welches Leben ihn jenseits des Stacheldrahts erwartet. Doch als Neuzugang William die Nachbarzelle bezieht, wird Joes Sehnsucht nach Freiheit durch ein anderes Begehren abgelöst. Einander mit wachsender Begierde und Verzweiflung umkreisend, begeben sich Joe und William auf eine Reise der emotionalen Emanzipation. Camera-obscura-Aufnahmen, Tuschezeichnungen, Tanz und Rap werden zu Ausdrucksmitteln. Der Debütfilm verfolgt die Irrungen und Wirrungen einer Leidenschaft zwischen zwei jungen Männern, die sich auf ein Leben auf dem Wartegleis eingestellt hatten. Eine kompromisslose Vision der Liebe: Hinter diesen Mauern steht Leidenschaft an erster Stelle, dann erst kommt die Freiheit.
Regie: Ira Sachs Frankreich, 2023, 91′ TEDDY nominated
Dem deutschen Filmemacher Tomas ist am letzten Tag seines Drehs in Paris die Anspannung anzumerken. Mit pedantischer Härteerklärt er seinen Kompars*innen, wie sie ihre Hände zu halten oder mit welcher Motivation sie eine Treppe herunterzugehen haben, bis endlich die Schlussklappe fällt. Auf der Abschlussparty fällt Tomas erst in die Arme seines britischen Ehemannes Martin, dann lernt er die junge Grundschullehrerin Agathe kennen. Aus einem Tanz entwickelt sich ein Flirt, aus dem eine leidenschaftliche Nacht wird. Am nächsten Morgen erzählt Tomas Martin stolz, dass er mit einer Frau geschlafen hat. Als sich aus dem One-Night-Stand mehr entwickelt, beginnt sich die Männerbeziehung zu verändern. Es entspinnt sich eine Beziehungsgeschichte, die von Leidenschaft, Eifersucht und Narzissmus geprägt ist und in der es wenig Gespür für die Bedürfnisse der anderen gibt. Ira Sachs, bereits zum sechsten Mal zu Gast im Panorama, beweist in seinem neuesten Film einmal mehr sein Talent für genau beobachtete Beziehungsdramen. Der Wind des französischen Kinos und ein Hauch von Fassbinder umwehen die drei, deren persönliche Verletzungen die Machtverhältnisse untereinander immer wieder neu bestimmen.
Als die 23-jährige Franky nach dem Sex von ihrem Freund die Worte „Ich liebe Dich“ hört, antwortet sie nur: „Meinetwegen, wir sehen uns später.“ Als Kind wurde sie durch ein Feuer schwer verletzt, was nicht nur an ihrem Körper Spuren hinterlassen hat. Seit 15 Jahren versucht sie, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Inzwischen arbeitet Franky als Krankenschwester in dem Krankenhaus, in dem damals ihr Leben gerettet wurde. Hier ist sie in jedem Zimmer willkommen, findet für jede*n Patient*in die richtigen Worte. Auch für die ungestüme Florence. Die beiden verlieben sich und Franky flieht mit ihr vor ihrer vereinnahmenden Familie aus dem Londoner Arbeiterviertel Dagenham. Bei Florence und ihrer Patchwork-Familie findet sie ein sicheres Zuhause. Doch die Vergangenheit lässt sie nicht zur Ruhe kommen, und bald zeigt die Beziehung zu Florence erste Risse. Silver Haze ist die zweite Zusammenarbeit von Regisseurin Sacha Polak und Laiendarstellerin Vicky Knight. Die Geschichte fügt sich aus Improvisationen und Rückgriffen auf wahre Begebenheiten aus Vicky Knights Leben zusammen. Die sinnliche Kamera fängt dazu unmittelbare, raue Bilder von sanfter Poesie ein.
Irma Gräfin von Sztáray hat es nicht leicht. Kurz vor ihrer Bewerbung als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn schlägt ihr die strenge Mutter vor Aufregung die Nase blutig, dann wird sie bei Hof wie ein Stück Vieh aufs Podest gestellt und verhört. Auf Sisis Sommersitz auf Korfu muss Irma in sadistischen Übungen erst ihre Sportlichkeit unter Beweis stellen und wird mit Kokainextrakten auf Diät gesetzt, bevor sie endlich die launische und erratische Kaiserin persönlich kennenlernt. Zwischen Abführtees und Wassersuppen, Wanderungen und Schönheitsbehandlungen kommen die beiden unterschiedlichen Frauen sich schnell nah – natürlich nur so nah, wie Sisi erlaubt. Doch jeder Sommer hat ein Ende, und mit der Rückkehr nach Wien ändern sich die Leben von Sisi und Irma drastisch. Frauke Finsterwalder lässt in ihrer wilden Neuinterpretation des viel erzählten Sisi-Mythos die zwei schauspielerischen Naturgewalten Susanne Wolff und Sandra Hüller aufeinander los und erlaubt ihnen, sich gegenseitig an die Wand zu spielen. In umwerfenden Kostümen von Tanja Hausner und zum Soundtrack von Nico, Portishead und Le Tigre entführt der Film in eine von Frauen dominierte Welt, zu der neben den queeren Zofen nur der schwule Erzherzog Viktor Zugang hat.
Regie: Vincent Dieutre Frankreich, 2023, 108′ TEDDY nominated
Während der Pandemie reist der europäische Filmemacher ins Spektakel- und Desaster-affine Los Angeles. Unter dem Hollywood Sign ist die permanente Bewegung vorgeschrieben: niemals anhalten, nicht genau hinschauen, kein Gefühl des Hierseins entwickeln. In langen Kamerafahrten aus dem sicheren Ford Mustang heraus gleitet der Blick durch die Stadt, deren schimmernde Oberflächen ihm seine kulturkritisch geprägte Perspektive zurückspiegeln. Die von Baudrillard und Bégout diagnostizierte Leere, die fehlenden Zusammenhänge, die Bedeutungslosigkeit, das vielleicht schon zurückliegende Ende der Welt sehen durch die müden Augen der Alten Welt überraschend aufregend aus: Eine 40 Jahre alte Liebe flammt wieder auf, die Bewegungen der Liebe fallen aus dem coolen Fluss der Zeit, Kojoten erobern die Gärten, Schlangen schwimmen im Pool. Ein Chor von Schauspieler*innen teilt Weltuntergangsgedichte von E. E. Cummings bis Ocean Vuong und Claudia Rankine miteinander, die Stimmen aus der Neuen Welt unterbrechen den französischen Kommentar. Und zwei über 70-jährige Körper aus zwei untergegangenen Welten synchronisieren sich zärtlich mit dem Kino der Attraktionen.
In einem kolumbianischen Gefängnis verlieben sich 2012 der linksintellektuelle FARC-Rebell Jaison und die bis dahin unpolitische ehemalige trans* Sexarbeiterin Laura. Die Verbindung sorgt innerhalb der FARC zunächst für Misstrauen, das der charismatische Jaison jedoch mit dem Aufruf zum gemeinsamen Klassenkampf auflösen kann. Er beschwört eine Solidarität, die aus der gemeinsamen Diskriminierungserfahrung schöpft. So bringt die Utopie einer gerechteren Welt trans* Aktivist*innen und entwaffnete FARC-Kämpfer*innen Seite an Seite, auf Demos in Bogotás Rotlichtviertel und in den FARC-Camps in den Bergen. Die Trans FARC beginnt gemeinsam für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der Transrechte Teil des Friedensvertrags sind und in der für die trans*Sexarbeiter*innen Daniela und Max eine gemeinsame Elternschaft möglich ist. Die FARC ist in den letzten Jahren vielfach dokumentarisch dargestellt worden, dennoch gelingt es Regisseur Joris Lachaise, einen neuen Aspekt umfassend zu beleuchten. Organisch verwebt er verschiedene Zeitebenen und selbst gedrehtes Material der Protagonist*innen aus diversen Gefängnissen. Der Titel des Films, Transfariana, verweist auf die weiblichen FARC-Mitglieder, die „Farianas“.
Wir freuen uns, vier fantastische DJs an Bord zu haben, die für den besten Sound bei der großen TEDDY Party in der Berliner Volksbühne sorgen werden.
Pat Bernetti startete ihre Karriere in NYC und lebt nun in Berlin, wo sie in Clubs, auf Festivals, Awards, Galas und Events auf der ganzen Welt auflegt und die Party-Crowds mit ihrem Mix aus RnB, Hip Hop, House, Pop, Funk, Oldies, Rock, Electro Swing & Charts begeistert.
DJ Trust.The.Girl elektrisiert das queere Publikum in ganz Deutschland mit ihrem bunten, lebendigen Mix aus verschiedenen Genres.
Amperia ist eine queere, nicht-binäre DJane aus Berlin. Bekannt durch ihre Party Golosissima und als Resident und Kurator von Autopoiesis und poly|motion, wird dey ein treibendes Techno-House-Set spielen.
Ābnamā: eine Dose Würmer mit Lippenstift auf der Dose, eine Rückkehr zur Quelle aller Dinge und ein Flashback zu verlorenen Lagern, die man nie hatte. Sie lebt in Berlin, ist Mitveranstalterin und Resident bei DUMP und bekannt für treibende Grooves, die sich über verschiedene Genres erstrecken.
Es ist Nacht in Paris. Der treibende Bass einer Musikanlage dröhnt durch eine Tiefgarage. Auf der Tanzfläche eines Clubs lassen sich die Feiernden vom Techno treiben, umhüllt von Rauch und Licht, kommuniziert wird nur mit dem Körper. Als Félicie von ihrer Ex-Freundin angetanzt wird, wendet sie sich ab. Im Raum nebenan ist die Musik leiser. Man kommt ins Gespräch, nimmt Drogen odermacht eine Pause, bevor wieder hemmungslos weitergetanzt wird. Hier trifft Félicie auf Saïd, der gerade von seiner Schicht als Fahrerkommt und von den Gelbwestenprotesten erzählt. Félicie schlägt ihm vor, bei ihr weiterzufeiern, während die anderen Partygänger*innen sich weiter in der Nacht verlieren. In schwebenden, klarsichtigen Nahaufnahmen und inmitten einer sich stetig weiter entwickelnden Klangwelt erfasst Regisseur Anthony Lapia Anatomie und Energie einer Party genauso wie den Übergang in die langsam ruhiger werdende Welt der Afterparty. Zwischen Nacht und Tag treffen verschiedene Lebensrealitäten und Ansichten aufeinander, bevor der Alltag mehr oder weniger behutsam, aber unerbittlich zurückkehrt.
Regie: Juan Sebastian Torales Frankreich, Argentinien, Italien, 2023, 94′ TEDDY nominated
“He’s not the first boy who’s missing in the forest. The boy that was with him says that a monster has taken him.”
„Das ist nicht der erste Junge, der im Wald vermisst wird. Der Junge, der bei ihm war, sagt, ein Monster habe ihn geholt.“
Santiago del Estero, Nordargentinien. Nino ist für andere Jungs angeblich ein schlechter Einfluss. Auf der Straße ist er homophoben Angriffen ausgesetzt. Vorübergehend ziehen seine Eltern mit ihm aufs Land. Dort wandert er durch einen Wald, wo angeblich das Monster Almamula diejenigen holt, die fleischliche Sünden und unreine Handlungen begehen. Es ist Sommer: Die Körper schwitzen, die Grenze zwischen Traum und Realität verwischt. Ein Junge verschwindet. In einer Welt voller Geflüster, unausgesprochener Wünsche und Gebete erwachen Ninos Neugier und Begehren. Auf der Flucht vor einer Welt voller Hass, Unterdrückung, Verboten und drohender Gewalt werden die verborgenen und sinnlichen Rätsel des Waldes für Nino zunehmend interessant.
Regie: Pablo Solarz Argentinien, Uruguay, 2022, 75′
„Wir werden erwachsen, machen Fehler, lernen daraus, wir leiden, wir lachen herzlich, wir werden älter, wir werden krank, wir sterben.Und während all dem, lieber Felipe Zavala, müssen wir leben.“
Felipe hat einen Traum: Er steht als Schauspieler auf der Bühne, während seine Mutter, seine Oma und sein verstorbener Vater im Publikum sitzen und ihm begeistert zuschauen. Nach dem Aufwachen holt ihn die Realität wieder ein. Mit seinen Freund*innen spielt er leidenschaftlich gern Theater, nachts schreibt er seine eigenen Stücke, aber er verheimlicht seiner Mutter, dass er Schauspielunterrichtnimmt. In deren Wirklichkeit ist für solche Träume kein Platz, und auf das Theater ist sie ohnehin schlecht zu sprechen. Als Felipe zu einem Casting eingeladen wird und dort etwas über die Geheimnisse innerhalb seiner Familie erfährt, verschwimmen die Grenzenzwischen Traum und Realität, Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Leben zunehmend.
Regie: Hannes Hirsch Deutschland, 2023, 79′ TEDDY nominated
Moritz kommt ziemlich planlos nach Berlin. Vielleicht will er Kunstgeschichte studieren, aber eilig hat er es nicht, er ist erst 22. Der Grund für den Umzug ist sein Freund Jonas. Fotograf, hübsch und mit den Gepflogenheiten und Unverbindlichkeiten schon etwas vertrauter. Das Ende der Beziehung kommt plötzlich. Moritz ist zerstört, allein, auf der Suche. Sein erster Gang führt ins Fitnessstudio. Nach und nach ändern sich die Mode, die Freund*innen und Drogen. Sein Leben verlagert sich immer mehr in die Nacht, er beginnt, bis herunterdrückte Sehnsüchte auszuleben. Hannes Hirschs Langfilmdebüt leuchtet auf sensible und dokumentarisch anmutende Weise einen Neuanfang in der Berliner Schwulenszene aus. Körper- und Männlichkeitsbilder werden immer wieder verhandelt, sexuelle Konstellationen und Identitäten ändern sich und Unsicherheiten werden mit dem Rausch der nächsten Begegnung sediert. Moritz’ Verletzlichkeit bleibt dabei immer erkennbar. So blickt Drifter hinter den verführerischen Oberflächen einer grenzenlosen Nachtkultur und ihrem kurzlebigen Spiel sehr genau auf die Menschen, statt das Klischee zu feiern.
Regie: Sam H. Freeman, Ng Choon Ping Vereinigtes Königreich, 2023, 99′ TEDDY nominated
Jules gehört mit seinen Auftritten als Aphrodite Banks zu den gefeierten Drag-Performern Londons. Nach einer Show will er nur kurzZigaretten holen und wird von einem Typen, der mit seiner Boys-Gang unterwegs ist, brutal zusammengeschlagen. Körperlich kann ersich zwar wieder erholen, zieht sich aber traumatisiert aus der Öffentlichkeit zurück. Monate später erkennt Jules in einer Schwulensauna per Zufall seinen Angreifer wieder. Ohne Make-up und nur mit einem Handtuch bekleidet kann er ihm unerkannt nahekommen und die Identität des Schlägers herausfinden. Er beginnt eine Affäre mit dem versteckt homosexuellen Preston, um sich an ihm zu rächen. Mit großer Direktheit, dicht inszenierten Szenen und getragen von der physisch und psychologisch subtilen Performance seiner Darsteller erzählt das Regieduo Sam H. Freeman und Ng Choon Ping von einem London der krassen genderideologischen Gegensätze. Ihr Revenge-Thriller ist packend und mehr als das: eine Milieustudie, die Sozialdeterminismus vermeidet, ein eindringliches Psychogramm internalisierter Homonegativität und ein so gewaltiger wie mutiger LGBTIQ*-Tritt gegen eine im Kern totalitäre, schwulen-und transfeindliche Gesellschaft.
Regie: Han Shuai Hong Kong, China, 2023, 92′ TEDDY nominated
Sie begegnen sich am Flughafen in Seoul und könnten unterschiedlicher nicht sein: Die chinesische Immigrantin Jin Xia arbeitet an der Sicherheitskontrolle, kleidet sich praktisch, tut ihre Pflicht. Die grünhaarige Frau, die an diesem Tag dort auftaucht, ist jünger, extrovertierter und lässt sich vom Abtasten nicht beeindrucken. Jin Xia ist fasziniert. Als die Frau sie schon kurz darauf in ihre krummen Geschäfte verwickelt, wird klar, dass die beiden mehr gemeinsam haben, als man ihnen ansieht. Auf der Jagd nach dem großen Coup, der sie von allen Abhängigkeiten befreien könnte, begeben sie sich in Südkoreas Unterwelt und behaupten sich dort gegen Männer, die sie dominieren, besitzen und benutzen wollen. In ihrem zweiten Langfilm lässt Han Shuai zwei Einzelkämpferinnen aufeinandertreffen, die das Leben gelehrt hat, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Während sie ihren widerwilligen Kennenlerntanz tanzen, sich mal anziehen und mal abstoßen, mal näherkommen und wieder voneinander abwenden, rückt ihr Plan in den Hintergrund. Der verbindende Kokon, der sich um die beiden spinnt, wenn sie nachts auf dem Moped durch die Stadt rasen, scheint fragil, aber alternativlos.
Regie: John Trengove Vereinigtes Königreich, USA, 2023, 95′ TEDDY nominated
Ralphie ist jung und gesund; seine Freundin ist schwanger. Doch er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Sein Job als Uber-Fahrer ist weder erfüllend noch bietet er finanzielle Sicherheit. Auch über sein Verhältnis zum eigenen Körper ist er sich nicht vollkommen im Klaren. Als er in einen libertären Männlichkeitskult eingeweiht wird, drängen aufgestaute innere Konflikte an die Oberfläche, und Ralphie verliert allmählich den Bezug zur Realität. In The Wound zeigte der südafrikanische Filmemacher John Trengove, wie durch ein Mannbarkeitsritual unterdrückte Gefühle freigesetzt werden und welche Gefahr davon ausgehen kann. Ähnliche Kräfte sind beim Protagonisten von Manodrome am Werk, wobei Trengove ein beunruhigendes Phänomen aus ungewöhnlichem Blickwinkel betrachtet. Denn Ralphie entspricht gerade nicht dem Stereotyp vom glühenden Frauenhasser, wie ihn die berüchtigten Incels verkörpern. Seine Figur schärft unseren Sinn dafür, was männliche Zerbrechlichkeit bedeuten kann. Trotz finsterer Implikationen zeigt der Film durchaus Humor. Der virtuose Spannungsaufbau und die darstellerische Glanzleistung von Jesse Eisenberg und Adrien Brody sind geradezu erschütternd.
Auf der Suche nach seiner Freundin ist der Fischer Julio vom Palmenstrand in die Millionenstadt Manila gekommen. Hier soll Ligaya eine Arbeitsstelle erhalten haben. Er selbst muss sich als Handlanger auf einem Neubau ausbeuten lassen. Da läuft ihm eines Tages die Frau über den Weg, die Ligaya nach Manila gelockt hat. Sie führt ihn zum Haus eines Chinesen, in dessen Fenster er seine Freundin zuerkennen meint. Als er mit der Arbeit auch seine Unterkunft verliert, nimmt ihn ein Stricher bei sich auf, der Julio in die Prostitution einweist. Alles deutet darauf hin, dass auch Ligaya der Prostitution nachgeht, allerdings nicht freiwillig … Stellvertretend für die urbanen Unterschichten schildert das Sozialmelodram den Leidensweg zweier Jugendlicher unter der Marcos-Diktatur, wobei das reale Setting symbolisch überhöht wird. Der sozialen Unterdrückung und staatlichen Korruption stehen in Manila Gesten der Solidarität unter den Ärmsten der Armen entgegen. Doch weder in kirchlichem Trost noch durch die marxistische Revolution werden die beiden Liebenden, die sich schließlich in einem Kino vor der Passion Christi in Nicholas Rays König der Könige (1961) umarmen, Erlösung finden.
Iman lebt mit seiner Frau Maryam und seinen beiden Töchtern in Schweden in ständig wechselnden Flüchtlingsheimen. Aus Angst vor Verfolgung aus seiner ehemaligen Heimat, Iran, geflohen, sucht er nach Wegen, um ihren Aufenthalt zu sichern. Mit einem Schneemobilliefert er Pizzen aus und verdient so etwas Geld dazu. Als Maryam überraschend ein drittes Kind erwartet und die Gespräche mit den Behörden schwieriger werden, nimmt Iman seine Karriere als Wrestler wieder auf. Er hat Maryam zwar versprochen, das Ganze hinter sich zu lassen, hofft aber auf eine Sonderaufenthaltsgenehmigung als Sportler. Seine Fähigkeiten sind schnell wieder da und werden im schwedischen Team geschätzt. Sein Leben abseits der Familie bleibt nicht ohne Folgen, die Kommunikation mit seiner Frau bricht ein, die keinen Grund mehr sieht, in Schweden zu bleiben, und er wird mit den tiefer liegenden Gründen für seine Flucht konfrontiert. Der zweite Spielfilm des iranischen Regisseurs Milad Alami zeichnet eine sowohl emotionale als auch körperliche Auseinandersetzung mit dem Unausgesprochenen. Ein präzise eingefangenes Drama mit einer einnehmenden Besetzung, angeführt von Payman Maadi, welches sichtbar macht, wie sich komplexe gesellschaftliche Dynamiken auf das Innere einer Person auswirken.
Regie: Vuk Lungulov-Klotz USA, 2023, 87′ TEDDY nominated
„Für mich ist das kein Problem.“ – „Na ja, für mich schon.“
Nach seiner Transition schien es für Feña zunächst leichter, getrennte Wege zu gehen. Zu schmerzhaft war es, die Veränderung zu verarbeiten, untragbar die Reaktion der Familie. Als Feña einen Ex-Freund wieder trifft, unverhofft Besuch von der kleinen Schwesterbekommt und der chilenische Vater seine Nähe sucht, kreuzen sich ihre Leben wieder: Wichtig ist nicht nur, was sich verändert, sondern auch, was bleibt. Sensibel, intim und ehrlich erforscht Vuk Lungulov-Klotz in seinem Debüt die komplexe Herausforderung des Trans-Seins, Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander in Einklang zu bringen. Innerhalb von 24 Stunden im New Yorker Sommer verdichten sich die kleinen, lauten Nuancen von Feñas Alltag zu einem Coming-of-Age im Dazwischen.
In den 1970er-Jahren studiert die Iranerin Zahra Medizin an der Universität Bukarest. Dort lernt sie ihre Kommilitonin Maria kennen. Beide schließen eine tiefe Freundschaft voll gegenseitiger Bewunderung. Als 1979 die iranische Revolution den Schah stürzt, geht Zahra zurück in ihr Land, auf politischen Wandel hoffend. Enttäuschungen lassen nicht lange auf sich warten. Trotzdem kommt sie nie wieder nach Rumänien. Aber sie und Maria schreiben sich jahrzehntelang Briefe. Darin berichten sie von Protesten und allgemeinen Unruhen in beiden Ländern, von der Unterdrückung der Frau und wie diese sie betrifft. Auch Rumänien erlebt seine Umwälzung. Die Korrespondenz zeigt zwei Frauen, durch zwei Revolutionen getrennt, die damit ringen, gesellschaftlichen Normen zu entsprechen. Nach und nach spürt man, dass sie mehr verbindet als nur Freundschaft. In seinem Film verwendet Vlad Petri ausschließlich atemberaubendes, gekonnt montiertes Archivmaterial aus dem Iran und Rumänien. Er erzählt die Geschichte der beiden Frauen auf eine Weise, dass die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktion verblasst. So eine Verbindung in so harten Zeiten: zu schön, um wahr zu sein?
Bambino hat sich in seinem Singleleben eingerichtet. Als Lieferfahrer in Lagos hat er ein geregeltes Einkommen, auch wenn die versprochene Beförderung auf sich warten lässt. Von der Nachbarschaft wird er geschätzt; er hilft finanziell aus, wo er kann, und ist großzügig bei verspäteten Rückzahlungen. Die Avancen der Nachbarin Ifeyinwa lassen ihn kalt, doch als er dem charismatischen Bawa begegnet, haben die beiden gleich einen Draht zueinander. Für einen Fotowettbewerb fahren sie auf langen Erkundungen immer öfter tagelang durch die Stadt. Schnell wird klar, dass Bawa durch seine Fotolinse in Bambino nicht nur ein gutes Modell sieht, sondern auch mehr als einen Freund. Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Babatunde Apalowo nimmt den Titel seines Films beim Wort: Durch eine unaufdringliche Farbdramaturgie erzählt er zurückgenommen und zärtlich von der Annäherung zweier Männer in einer Gesellschaft, die gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen tabuisiert und strafrechtlich verfolgt. In konzentrierten Bildern und mit großer Ruhe entfaltet sich langsam ihr Tanz umeinander. Ein sinnlicher und politisch wichtiger Film aus Nigeria über eine unerwartete Liebe.
Buenos Aires im März 2020, an einem der letzten Tage vor Ausbruch der Pandemie. Eine Hochzeit wird gefeiert, ein Auto überschlägt sich. Joints, Küsse, ein Blowjob und die Erinnerung an einen Verlust werden geteilt. Im Mittelpunkt dieser Komödie der Irrungen steht der vom Regisseur Martín Shanly gespielte Arturo, ein Mann von 30 Jahren. Sein Hang zum Missgeschick ist so groß wie seine Orientierungslosigkeit, bei den anderen Figuren ist es ähnlich. Die Häufung von Fehltritten und Fettnäpfchen verhält sich umgekehrt proportional zur Geschmeidigkeit, mit der der Film vom Tag der Trauung zurück in die 2010er-Jahre gleitet. Episoden aus Arturos Leben, etwa eine Busreise nach Patagonien mit seinem trans Mitbewohner oder die Generalprobe eines Theaterstücks, das zum Fremdschämen einlädt, kommen zur Geltung, die erzählte Zeit verdichtet sich, dann dehnt sie sich wieder, ein Voiceover gibt Halt im turbulenten Gang der Dinge. Wenn der Schlager „Azúcar amargo“ (Bitterer Zucker) ertönt, dann füllt sich die Tanzfläche, und der Hinweis auf das bittersüße Wesendes Films ist so deutlich zu vernehmen wie zuvor der Husten, vor den sich hier noch keine Ellenbeuge schiebt.
Ein vergangener deutscher Polizeistaat ist das Setting für den pulsierenden Kurzthriller Es gibt keine Angst. Darin collagiert Anna Zett Video- und Audiomaterial aus dem Berliner Archiv der DDR-Opposition und nimmt dabei die Perspektive eines sensiblen Kindes ein. Auf der Grundlage eigener, intimer Verwicklung dokumentiert die Künstlerin einen bewegenden und dennoch heute kaum bekannten Akt der politischen Selbstermächtigung kurz vom Ende der DDR und eröffnet gleichzeitig einen assoziativen Raum, um sich in heute schwerzugängliche Gewalterfahrung aufs Neue einzufühlen. Vokal hochverdichtete Stimmen von einer Ostberliner Lyriklesung von 1986unterstützen die selbst stimmlose Erzählfigur – „ein erwachsenes Kind“ – bei der Rekonstruktion ihrer eigenen Gefühlswelt, vielspurig untermalt von Untergrundmusik aus der späten DDR. Von Aufnahmen der Umweltbibliothek über Privatvideos und journalistisches Material führt der Film zur zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg im September 1990 und findet dort in eine ganz andere Stimmung.
Regie: Karen O’Connor, Miri Navasky, Maeve O’Boyle USA, 2023, 113′
Als Musikerin, Bürgerrechtlerin und Aktivistin stand Joan Baez seit ihrem Debüt im Alter von 18 über 60 Jahre auf der Bühne. Für die inzwischen 82-Jährige war das Persönliche immer schon politisch, die Freundschaft zu Martin Luther King und der Pazifismus prägten ihr Engagement. Ausgehend von ihrer Abschiedstour zieht Baez in dieser Biografie eine schonungslose Bilanz, in der sie sich auch schmerzhaften Erinnerungen stellt. Sie teilt nicht nur ihre Erfolge, sondern spricht offen über langjährige psychische Probleme und Therapien, über Familie, Drogen, das Altern und Fragen von Schuld und Vergebung. Und sie stellt auch klar, dass sie während ihrer Beziehung mit dem sehr jungen Bob Dylan ihre Prominenz nutzte, um seine Karriere in Gang zu bringen. Ihre Enttäuschung über die spätere Entfremdung von Dylan wird greifbar. Aufgrund einer langjährigen Freundschaft zu einer der Regisseurinnen, Karen O’Connor, gewährte Baez dem Regietrio auch Zugang zu den „inneren Dämonen“, die sie seit ihrer Jugend begleiten. Der Film verwebt Tagebuchtexte, eine Fülle von teils ungezeigtem Archivmaterial und ausführliche Gespräche mit Baez mit Backstage-Momenten der Tour. Ein intimes Porträt, das nicht nur für Fans interessant ist.
Regie: Paul B. Preciado Frankreich, 2023, 98′ TEDDY nominated
Virginia Woolfs „Orlando“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der am Ende eine 36-jährige Frau ist. Fast ein Jahrhundert nach Erscheinen des Romans richtet Paul B. Preciado das Wort an Virginia Woolf, um ihr zu sagen: Ihre Romanfigur ist Wirklichkeit geworden. Alle nicht-binären Körper beziehen sich auf die Transition von Orlandos Körper. Überall auf der Welt gibt es Orlandos. Durch die authentischen Stimmen anderer junger Körper, die eine Metamorphose durchlaufen, zeichnet Preciado Schritt für Schritt seine persönliche Transformation nach. Eine poetische Reise, bei der, auf der Suche nach Wahrheit, Leben, Schreiben, Theorie und Metapher frei ineinander übergehen. Jeder Orlando, so Preciado, ist eine trans* Person, die sich täglich mit Gesetzen, Geschichte, Psychiatrie, traditionellen Familienvorstellungen und der Macht der Pharmakonzerne auseinandersetzt und ihr Leben riskiert. Wenn Männlich und Weiblich nur politische und gesellschaftliche Fiktion sind, so zeigt Orlando, ma biographie politique, dass es beim Thema Veränderung nicht mehr nur um das Geschlecht geht, sondern auch um Poesie, Liebe und Hautfarbe.
Regie: Antonio Carlos da Fontoura Brasilien, 1973, 99′
Vom Hinterzimmer eines Bordells aus beherrscht die schwule Schwarze „Teufelskönigin“ (ein bürgerlicher Name wird nie genannt) die Unterwelt von Rio de Janeiro. Unter grünem Lidschatten fällt ihr Blick unbarmherzig auf die Mitglieder ihres Drogenkartells. Mit demselben Klappmesser werden Beine rasiert und Verräter aufgeschlitzt. Doch ihr Terrorregime ist instabil, es regt sich Widerstand. Um die Königin zu ersetzen, führen bald alle gegeneinander Krieg, die im bürgerlichen Leben keine Chance haben: die Favela-Gangster gegen die Schwulen, die Dragqueens gegen die Sexarbeiterinnen. Fontouras grelle Pulp-Konstruktion steht für das populäre brasilianische Kino in der Zeit der Militärdiktatur, in dem Machtverhältnisse nihilistisch überzeichnet wurden. Wie in Karim Aïnouz’ Madame Satã (2002) dient auch hier João Francisco dos Santos, eine legendäre Gangsterfigur der 1930er-Jahre, als Vorbild, die hier als frühe Repräsentation von Queerness in die 1970er übersetzt wird. Milton Gonçalves spielt sie mit verschiedenen Stimmen, und das dichotomische Konzept von Männlichkeit, das zwischen Macho und Tunte keine Schattierungen zulässt, löst sich in Luft und Glitter auf.
SCREENING TIMES:
17.02. / 22:00 Zoo Palast 2
RERUNS:
La Bête dans la jungle (TheBeast in the Jungle) 17.02. / 18:30 Zoo Palast 1
Notre corps (Our Body) 17.02. / 19:00 Delphi Filmpalast