Alle Beiträge von Oscar M Holzwart

Weg mit dem Monokel! -Gegen die monosexuelle Interpretation queerer Filme

Von Hannah Congdon

Das letzte Jahrzehnt, und insbesondere die letzten Jahre, haben den beispiellosen Ausbruch queerer Filme in den kommerziellen Mainstream erlebt. Werke wie Brokeback Mountain, Blue is the Warmest Colour, Moonlight und Carol sind heute bekannte Namen. Und es ist fast schon selbstverständlich, dass jedes Jahr mehrere Anwärter auf den TEDDY AWARD von großen Filmverleihern erworben werden, wie der Erfolg von Call Me By Your Name, God’s Own Country und A Fantastic Woman zeigt. Was auch immer ihr über die jeweiligen Vor- und Nachteile dieser Filme denken mögt, der wachsende Appetit auf LGBTQ+-Filme bei Verleihern und Publikum ist unbestreitbar ein Schritt in die richtige Richtung.

Aber es zeichnet sich ein weiteres Muster ab, das das Potenzial dieser Kinoerfolge einschränkt (abgesehen davon, dass die Mehrheit dieser Filme ausschließlich weiß besetzt sind und Transmenschen mehr als dürftig repräsentiert werden – Themen, die eigene Diskussionen erfordern): Die kommerzielle Vorlage für eine Reihe der Filme ist es, sie als monosexuelle, homosexuelle Liebesgeschichten zu vermarkten. Infolgedessen gibt es eine scheinbare Unsichtbarkeit von bi-, pan- und polysexuellen Liebesgeschichten, die die binäre Einteilung in hetero-/homosexuell stören könnten. Wo das New Queer Cinema der 90er Jahre Queering-Methoden und Narrative einsetzte, die Vorstellungen von Gendereinteilung und sexueller Klassifizierung aufsprengten und sowohl LGBT-Identitäten wie auch die Räume zwischen diesen Buchstaben erkundeten, scheint es der aktuelle Trend zu sein, romantische queere Narrative als monosexuelle Liebesgeschichten zu lesen. In einigen Fällen trifft diese Lesart zu, aber in vielen Fällen vereinfacht sie das Spektrum der dargestellten Beziehungen und Sexualitäten zu sehr. Wenn der queere Film es jetzt in den Mainstream schafft, ist es an der Zeit, dass Kritiker und Publikum lernen, ihre Monokel wegzuwerfen und diese Filme mit der Pluralität zu sehen, aus der sie gemacht sind.

Filmkritiker spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung populärer Vorstellungen und Lesarten von öffentlich zugänglichen Filmen. Während Label innerhalb der LGBTQ+-Bewegung eine wichtige und ermächtigende Rolle spielen, ist es frustrierend, dass so viele Kritiker hartnäckig darauf bestehen, Filme nur als „schwul“ und „lesbisch“ zu benennen, ohne den Rest des Spektrums in queeren Erzählungen zu untersuchen. Bleiben wir vorerst bei unseren einschlägigen Beispielen: In Brokeback Mountain, Blue Is the Warmest Colour, Carol und Call Me By Your Name haben die Hauptfiguren nicht nur gleichgeschlechtliche romantische und sexuelle Beziehungen, sondern auch heterosexuelle Beziehungen. In jedem Fall sind die heterosexuellen Beziehungen aus verschiedenen Gründen unbefriedigend geworden und haben im Vergleich zu ihren neu gefundenen Liebesinteressen an Bedeutung verloren. Dennoch werden diese Beziehungen oft als echt, liebevoll und sexuell dargestellt, sind zentrale Aspekte der emotionalen Entwicklung der Charaktere, und es wird selten deutlich gemacht, dass sie zusammengebrochen sind, nur weil der vorherige Partner der Charaktere die „falsche“ Genderidentität hatte. Kritiker und Publikum gleichermaßen erkennen oft nicht die Möglichkeit, dass Individuen von Menschen und nicht von Geschlechtern angezogen werden können, und in einer Reihe von Rezensionen für diese Filme werden die heterosexuellen Beziehungen höchstens am Rande erwähnt.

Call Me By Your Name ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Als „wunderschöne schwule Liebesgeschichte“ gefeiert, enthüllen der Film und sein Ausgangsmaterial eine weitaus komplexere Geschichte des sexuellen Erwachens, als sie normalerweise erzählt wird. Die unterschiedlichen Beziehungen, die Elio zu Marzia und Oliver hat, haben wohl mehr damit zu tun, dass letzterer weitaus reifer ist als erstere, als dass sie sich auf ihre Geschlechter beziehen. Der Originaltext ist noch deutlicher im Hinblick auf Elios sexuelle Fluidität:

“How strange, I thought, how each shadowed and screened the other, without precluding the other. Barely half an hour ago I was asking Oliver to fuck me and now here I was about to make love to Marzia, and yet neither had anything to do with the other except through Elio, who happened to be one and the same person.”

© Sony Pictures Classics/Berlinale
© Sony Pictures Classics/Berlinale

Dass nur so wenige Kommentatoren auf die Bedeutung von Elios verschiedenen sexuellen Beziehungen hingewiesen haben, ist eine leidige Erinnerung an die anhaltende Vernachlässigung von Bi- und Pan-Sexualität innerhalb der Filmkritik wie auch innerhalb der Gesellschaft. Es sollte im aktuellen Kontext der Geschlechterpolitik unnötig sein, sich so sehr auf Kategorien und Labels der Sexualität zu konzentrieren, aber die Tatsache, dass die offen bisexuelle Regisseurin Desiree Arkhavan (The Miseducation of Cameron Post) den etwas ungeschminkten Titel The Bisexual für ihre jüngste Channel-4-Serie gewählt hat, zeigt, wie oft der Schwellenraum zwischen homo- und heterosexuell übersehen wird, und stellt ebenso die anhaltende Zurückhaltung in der Filmindustrie und anderswo aus, die Begriffe bi- und pan-sexuell zu verwenden.

Interessant ist auch, dass die Kritik an offensichtlich bisexuelle Filme und Serien darin besteht, dass ihnen eine saubere Struktur fehle. The Bisexual wurde als „inkonsistent“ diffamiert, während Arkhavans Film Appropriate Behaviour von 2015, in dem es um eine amerikanisch-iranische bisexuelle Frau geht, die eine Trennung durchmacht, als „zeitlich desorientiert“ und voller „Gerümpel“ bezeichnet wurde. Tom Shkolniks The Comedian aus Israel erzählt mit drastisch langen Improvisationen die Geschichte eines Stand-Up-Comedians, der zwischen einer romantischen, aber weitgehend asexuellen Beziehung zu seiner Mitbewohnerin und seiner Affäre mit einem offen schwulen Maler hin- und hergerissen ist. Obwohl der Film seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2012 immer mehr positive Resonanz findet, urteilten die frühen Kritiker, dass es ihm an „Gestaltung“ und „Form“ mangele und bezeichneten ihn als „unverbindlich“. Christophe Honores französischsprachiges Musical Les Chansons D’Amour, das über den Gesang die vierseitigen Liebesaffären zwischen seinen sexuell fluiden Hauptfiguren erzählte, wurde hingegen wegen seiner „Zufälligkeit“ und mangelnder „Kohärenz“ gemieden.

Was den Kritikern zu entgehen scheint, ist, dass alle drei Filmemacher Erzähltechniken verwenden, die der Standardstruktur widerstehen, die typischerweise für monosexuelle Liebesfilme verwendet wird, gerade weil diese strukturelle Unordnung viel besser geeignet ist, die Nichtlinearität von polysexuellen Beziehungen einzufangen. Maria Pramaggiore fasst dieses Phänomen in ihrem Essay „Representing Bisexualities“ prägnant zusammen. Sie verweist auf die „obligatorische Monosexualität“ vieler Hollywood-Filme und argumentiert, dass „konventionelle romantische Narrative mit Paaren, ob es sich nun um schwule, lesbische oder heterosexuelle Szenarien handelt, es schwierig machen, Bisexualität anders als eine Entwicklungsphase vor der „reifen“ monogamen Monosexualität zu erkennen oder sich vorzustellen“. Darauf weist weiter darauf hin, dass

“chronological narrative structures that assign more weight and import to the conclusion…may be less compatible with bisexual reading strategies, which focus on the episodic quality of a nonteleological temporal continuum across which a number of sexual acts, desire and identities might be expressed”.

Anstatt die verworrene Erzählweise der oben genannten Filme zu kritisieren, sollten wir die Filmemacher dafür loben, dass sie geeignete Methoden gefunden haben, um das zu vermitteln, was von Natur aus verworrene Narrative sind.

Dem Thema Nichtlinearität entsprechend möchte ich abschließend auf ein Werk zurückkommen, das zusehends als Klassiker der New Queer Wave am Ende des 20. Jahrhunderts anerkannt wird. In Todd Haynes‘ 1998er Glam-Rock-Musikdrama Velvet Goldmine ist die halluzinatorische Struktur des Films so weitläufig und fließend wie die Sexualität seiner Charaktere. Obwohl es bei seiner Veröffentlichung ein kleiner Flop war, erlebte es in den letzten Jahren eine kritische Renaissance. Ich bin kürzlich auf eine Rezension des Films gestoßen, die ein seltenes und erfrischendes Beispiel dafür liefert, wie sich ein Kritiker mit den ein Binärsystem aufbrechenden Methodiken des Films und der queeren Filmtheorie selbst beschäftigt:

Velvet Goldmine is often called a gay film, but that obscures the universal resonance of its queer coming-of-age narrative. Better to think of it as a bisexual film that uses non-binary sexuality as a metaphor for the boundless possibilities of youth”.

Judy Bermans Einschätzung erfasst die wirbelnde Komplexität der transgressiven Erzählweise und Techniken des Films und steht in exemplarischem Kontrast zu den entschlossen monosexuellen Lesarten zeitgenössischer queerer Filme. Viele der in diesem Artikel aufgeführten Filme enthalten tatsächlich lesbische und schwule Beziehungen, und es ist wichtig, diese Begriffe zu verwenden, um sie zu bezeichnen. Aber, wie die Filmtheoretikerin Maria San Filippo es treffend ausdrückt, „sind menschliche Sexualität und Begehren nicht reduzierbar auf und immer schon über binäre Denkweisen hinaus“. Diese Filme sind lesbisch, schwul und mehr. Sie in leicht vermarktbare Schachteln der Sexualität zu zerlegen, bedeutet, die Arbeit zu verringern, die sie bei der Erforschung von Grenzräumen zwischen binären Werten leisten. Und solange wir uns von der Einstellung leiten lassen, dass jemand entweder das oder jenes ist, gibt es auch wenig Hoffnung auf größere Fortschritte bei der Repräsentation von trans- und nicht-binären Menschen. Zweifellos werden die TEDDY-Filme dieses Jahres weiterhin solche Barrieren abbauen und die Notwendigkeit von Vielfalt und Intersektionalität innerhalb des queeren Films angehen. Als Publikum sollten wir der Komplexität ihrer Geschichten gerecht werden, indem wir Haynes‘ frechen Zwischentitel in Velvet Goldmine berücksichtigen:

“Meaning is not in things but in between them.”
― Norman O. Brown

Niemand steht allein – Gefährdete queere Filmfestivals

Von Zsombor Bobák

2018 war ein Jahr voller politischer Turbulenzen auf globaler Ebene. An den Grenzen zwischen Ländern wurden Mauern errichtet, der Rechtspopulismus hat den öffentlichen Diskurs stark belastet, Menschen mit anderer Hautfarbe, ethnischem Hintergrund oder Religion als die Mehrheit wurden dämonisiert, Frauen wurde durch Mansplaining wiederholt erklärt, wo ihr Platz in der Gesellschaft sein solle, und die queere Gemeinschaft musste weltweit mit Aggression und Gewalt kämpfen. Und während viele positive Veränderungen stattgefunden haben (man denke an den Aufstieg der Time’s Up-Bewegung oder die fortschreitende Anerkennung der LGBTQI*-Rechte in immer mehr Gesellschaften), erweist es sich manchmal als schwierig, hoffnungsvoll zu bleiben, wenn aktuelle Trends einer hasserfüllten und entzweienden Politik weltweit immer mehr Unterstützung finden. Wenn ich mir das Programm der 69. Berlinale und damit den 33. TEDDY ansehe, dann haben wir meiner Meinung nach einen Grund, auf der positiven Seite zu bleiben.

  Für mich stellten Kino und Filme immer eine Hoffnung dar. Als Teenager, der sich mit seiner Sexualität in einem sehr homophoben Land auseinandersetzte, fand ich Zuflucht in den Kinos von Budapest. Als ich mich in die Filme von François Ozon, Pedro Almodóvar, Gregg Araki, Lee Daniels, Bruce LaBruce, Maryam Keshavarz und Dee Rees oder die Klassiker von Chantal Akerman, Rainer Werner Fassbinder, Derek Jarman und Pier Paolo Pasolini vertiefte, fühlte ich, dass es in Ordnung ist, was ich fühle, und dass ich meinen Platz eines Tages in dieser Welt finden würde. Später, als das queere Kino zum Gegenstand meiner akademischen Untersuchungen wurde, lernte ich die Kraft, die in diesen bewegten Bildern liegt, und ihr Potenzial, tatsächliche Veränderungen herbeizuführen, wirklich zu verstehen.

Speziell queere Filmfestivals, diese oft utopischen Ereignisse, haben eine große Macht. Sie verfügen über die Mittel, um Einzelpersonen und Gemeinschaften, die mit der LGBTQI*-Familie verbunden sind, zu repräsentieren, zu umarmen, zu feiern und sichtbar zu machen und ihnen eine Stimme zu geben. Sie haben die Macht, den Dialog mit der breiteren, hegemonialen Gesellschaft zu fördern und durch ihr oft internationales Profil Brücken zwischen verschiedenen Gemeinschaften zu bauen. Durch ihre bloße Existenz erschweren sie dominante Diskurse innerhalb der Gesellschaft und tauchen als Räume auf, die Widerstand und eine (Neu-)Aushandlung von Macht im Allgemeinen ermöglichen. Im Laufe der Jahre wurden queere Filmfestivals zu Schauplätzen kultureller Debatten, nicht nur über die Rechte und Erfahrungen von LGBTQI*-Personen, sondern, mit weiterem Fokus, über allgemeine Menschenrechte, nationalistische Politik sowie globale und kulturelle Integrität. Sie prägen in hohem Maße die filmische Landschaft und mobilisieren das Publikum in immer größerer Zahl. Es kann mit Sicherheit behauptet werden, dass Queer-Filmfestivals mittlerweile Bastionen sozialer Macht und Hoffnung sind.

  Heute existiert ein globales Netzwerk queerer Filmfestivals, das eine lange und reichhaltige Geschichte hat. Verwurzelt in den sozialen Bewegungen, die sich auf Identitäts- und Repräsentationspolitik konzentrieren und stets nahe bei ihrer Basis bleiben, sind queere Filmfestivals historisch gesehen Akte eines gemeinschaftlichen Aktivismus und des sozialen Widerstands angesichts einer repressiven und intoleranten Hegemonie. Diese Festivals tragen bis heute dieses sozial engagierte Erbe und zielen darauf ab, die queere Agenda weiter voranzutreiben. Während viele queere Filmfestivals dieselben Ziele verfolgen, sind sie auch von ihrem jeweiligen Kontext abhängig. Obwohl sie die Tendenz haben, über eine unsichere oder düstere  Zukunft zu klagen, stehen queere Filmfestivals immer sehr im Austausch mit dem Hier und Jetzt. Diese Dringlichkeit treibt die queeren Filmfestivals dazu, sich miteinander zu verbinden. Anstatt sich auf einzelne Themen und Bereiche der (ge)queer(t)en Existenz zu konzentrieren, scheint in den letzten Jahren ein intersektionaler Ansatz für Organisation und Ausdruck die queere Filmfestivallandschaft zu dominieren, der die Verteilung von Wissen, Erfahrung und Expertise zwischen den verschiedenen Gemeinschaften ermöglicht und einen Raum schafft, um Ungleichheiten und Ungleichgewichte zu erkennen und gleichzeitig geschlossen zu handeln. Die Intersektionalität, die viele der queeren Filmfestivals kennzeichnet, ist bemerkenswert für ihre Fähigkeit, die LGBTQI*-Politik durch die Solidarität zwischen verschiedenen Identitäten zu beleuchten.

Dies ist von entscheidender Bedeutung für queere Filmfestivals, die mit ständiger Unterdrückung und sowohl legaler als auch physischer Gewalt konfrontiert sind. Ihre Existenz ist ebenso gefährdet wie die Hoffnung all derer Gemeinschaften, für die sie stehen. In den letzten Jahren erlebten wir viele gewalttätige Angriffe auf queere Filmfestivals auf der ganzen Welt: Das Side by Side Festival in St. Petersburg wird immer wieder von russischen Behörden und Anti-LGBTQI*-Gruppen bedroht; 2010 wurde das  Q! Festival in Jakarta von schwulenfeindlichen Demonstranten angegriffen; 2014 wurde während des Screenings eines schwulen Festivals ein Brandbombenanschlag auf Kiews ältestes Kino verübt; das Merlinka International Queer Festival 2008 musste wegen einer großen Anzahl von Drohungen von homophoben Demonstranten abgesagt werden; und die Eröffnung des Queer Sarajevo Film Festivals im selben Jahr fand ein blutiges Ende. In Covered, John Greysons ergreifendem Film über den Vorfall, äußert sich ein Befragter verzweifelt: „Festivals werden zu Massakern!“ Und tatsächlich sehen sich zu viele queere Filmfestivals mit ähnlich ernsten Problemen konfrontiert. Daher ist es wichtig, dass dieses globale Netzwerk von queeren Filmfestivals, das in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, Aufmerksamkeit generiert. Veranstaltungen wie der Queer Academy Summit 2019 sind großartige Möglichkeiten, bereits bestehende Beziehungen zu stärken, neue aufzubauen und durch Austausch zusammenzuarbeiten. Strategien zum Schutz der wichtigen kulturellen Arbeit queerer Filmfestivals können geteilt, neu bewertet und neu konfiguriert werden. Sicherlich können ein starkes Netzwerk und die Hingabe zur Zusammenarbeit die Existenz eines Festivals sichern.

  Die geografisch und kulturell ungleiche Verteilung der Festivals stellt ein weiteres Problem der Inklusivität, Sichtbarkeit und Vielfalt dar. Das Modell der Vernetzung und Zusammenarbeit könnte vielleicht einige Lösungen für dieses Problem bieten, und dabei kann der Queer Academy Summit 2019 eine große Rolle spielen. Unter Einbeziehung des Publikums bietet der Summit eine hervorragende Gelegenheit, um sicherzustellen, dass niemand alleine steht. Jeder Beitrag zählt und alle eingeleiteten Schritte gestalten eine bessere und integrativere Zukunft für LGBTQI*-Gemeinschaften weltweit. Schließlich ist die größte Macht, die queere Filmfestivals tragen, dass sie die Welt nicht einfach durch ihre spezifisch queeren Linsen reflektieren, sondern dass sie die Welt durch ihren queeren Aktivismus energisch und effektiv gestalten.

In unserem Schlaglicht präsentierten wir drei gefährdete queere Filmfestivals aus aller Welt, die sich durch eine Leidenschaft und Hingabe auszeichnen, die gefeiert werden muss:

Out Film Festival Nairobi (Kenya)

Dieses Festival wird seit 2011 mit Unterstützung von lokalen queeren Organisationen und dem Goethe-Institut Nairobi organisiert. Das Out Film Festival leistet einen bemerkenswerten Beitrag dazu, Kenias queere Gemeinschaft für die hegemoniale Gesellschaft sichtbar zu machen. Das Festival ist nicht nur ein Fest des queeren Kinos, sondern auch ein wichtiges Instrument im Kampf um die rechtliche Anerkennung, den Schutz und die allgemeine Akzeptanz der LGBTQI*-Gemeinschaft im Land.

In Kenia ist gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität (die als „gegen die Ordnung der Natur“ bezeichnet wird) illegal und kann nach § 162 Strafgesetzbuch zu Freiheitsstrafen von bis zu 14 Jahren führen, während der Geschlechtsverkehr zwischen Männern (bezeichnet als „grob unsittliches Verhalten“) zu weiteren 5 Jahren Freiheitsstrafe nach § 165 führen kann. Homosexualität wird von der Mehrheit der Gesellschaft als Tabu betrachtet und scharf verurteilt. Die LGBTQI*-Community ist häufig mit Aggression und Gewalt konfrontiert.

Gleichzeitig hat Kenia einen starken Output an queeren Filmproduktionen, der sicherlich dazu beiträgt, dass von der Hegemonie unterdrückte LGBTQI*-Stimmen zum Vorschein kommen. Stories of Our Lives, ein Film des in Nairobi ansässigen Kunstkollektivs The Nest Collective ist ein Episodenfilm über in Kenia lebende LGBTQI*-Personen. Das Kenya Film Classification Board verbot den Film in Kenia mit der Begründung, dass er „Homosexualität fördert, die im Widerspruch zu nationalen Normen und Werten steht“. International stieß der Film auf sehr positive Resonanz, gewann 2015 den Jurypreis des TEDDY und wird seither weithin gefeiert. 2018 wurde der Spielfilm Rafiki, eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, ebenfalls von derselben Behörde verboten: „Die Behörde stellt mit großer Sorge fest, dass Rafiki [….] homosexuelle Szenen enthält, die dem Gesetz, der Kultur und den moralischen Werten des kenianischen Volkes widersprechen“. Später wurde dieses Verbot aufgrund der positiven Resonanz des Films im Ausland aufgehoben, um ihn für die 91. Oscarverleihung zu qualifizieren. Der Film wurde sieben Tage in Folge in Kenia gezeigt, wobei viele Vorstellungen vollständig ausverkauft waren. Letztendlich wurde Rafiki nicht als Kandidat Kenias für den Auslandsoscar ausgewählt.

Wie auch diese Beispiele zeigen, ist das queere Kino in Kenia lebendig, aber es kämpft massiv darum, den Weg zum lokalen Publikum zu finden, und das Out Film Festival Nairobi spielt eine entscheidende Rolle dabei, dies zu ändern. Das Festival wird seit sieben Jahren mit Erfolg organisiert und hat viele queere Filme aus Kenia und dem Ausland gezeigt. Die Vorführungen werden von Podiumsdiskussionen und Vorträgen begleitet, und das Programm umfasst oft auch kostenlose HIV-Tests und -Beratung. Das Festival ist ein wichtiger Akteur bei der Bewusstseinsbildung und der Förderung des sozialen Wandels auf dem afrikanischen Kontinent. Das Out Film Festival Nairobi ist ein wahres Fest der Liebe und Vielfalt.

Weitere Informationen: https://nairobinow.wordpress.com/2018/11/01/out-film-festival-nairobi-2018-we-do-not-have-the-luxury-of-shame-nov-7-10-2018-goethe-institut-auditorium/

Aks International Minorities Festival (Pakistan)

In Pakistan können gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen aufgrund aus der Kolonialzeit stammender Gesetze mit Freiheitsstrafe bestraft werden. Dies wird allerdings  selten durchgesetzt. Das soziale Stigma für die Kultur und die Ausdrucksformen der LGBTQI*-Gemeinschaft ist stark und geht hauptsächlich auf religiöse Anliegen zurück. In einer solchen gesellschaftlichen Umgebung ist der große Erfolg und der Bildungswert des Aks International Minorities Festival erstaunlich. Das Festival zeichnet sich auch durch seine guten Beziehungen zu anderen internationalen queeren Filmfestivals in der ganzen Welt aus.

Das Wort Aks bedeutet Spiegel in der Urdu-Sprache, und wie die Organisatoren behaupten, ist es ihr Ziel, „…den transsexuellen und queeren Minderheiten einen metaphorischen Spiegel vorzuhalten, um ihre Sichtbarkeit zu verbessern „. Das 2014 in Pakistan gegründete Festival hat enge Verbindungen zu anderen Organisationen geknüpft, und mittlerweile wird auch ein jährliches Festival in Kopenhagen von den Veranstaltern organisiert.  Sie sind mit ihrem Programm bereits nach Wien gereist und präsentierten darüber hinaus auch die Ausstellung „Thirdness – Gender and Sexuality in Pakistan” im Schwulen* Museum in Berlin, eine gemeinsame Zusammenarbeit von Aks, dem Museum und dem Transformation – trans* Filmfestival. Ihre gemeinschaftlichen Anstrengungen und die Zugehörigkeit zu einem internationalen Netzwerk von queeren Filmfestivals sind der Schlüssel zu ihrem Erfolg.

Das Festival hat einen besonderen Fokus auf die indigene (Trans*-)Gemeinschaft der Khwaja Sira und ist entschlossen, die Repräsentation von queeren und transsexuellen* People of Colour zu verbessern. Neben den Vorführungen besteht das Festival auch aus Diskussionen und Debatten, Bildungsworkshops und Kunstausstellungen, die versuchen, an der Basis zu bleiben und den Beitrag von Mitgliedern der lokalen Gemeinschaft und anderen gemeinnützigen Organisationen fördern. Wichtig ist, dass das Festival zum Zweck der Dezentralisierung in mehreren Städten Pakistans organisiert wird, wodurch eine breitere nationale Reichweite ermöglicht werden kann.

Das Festival ist ein gutes Beispiel dafür, wie Vernetzung und Zusammenarbeit zu fruchtbaren transnationalen Ergebnissen führen können, und zeigt auch, dass sich queere Filmfestivals einem intersektionalen Ansatz verschrieben haben.

Webseite: http://www.aksfestival.com/

Beijing Queer Film Festival (China)

Dieses Festival hat es trotz einer sehr unruhigen Vergangenheit geschafft, am Leben zu bleiben und ein inklusiveres filmisches Umfeld in China seit mehr als einem Jahrzehnt zu fördern. Das Beijing Queer Film Festival ist das einzige queere Filmfestival auf dem chinesischen Festland und wird ständig von chinesischen Behörden schikaniert.

Das erste Festival wurde 2001 von Studenten unter dem Namen China Homosexual Film Festival organisiert. Aufgrund der sozialen und politischen Bedingungen in China war es unmöglich, das Filmfestival durchgängig zu organisieren, und anfangs fand es sporadisch unter verschiedenen Namen statt. Der aktuelle Name Beijing Queer Film Festival wurde 2009 eingeführt.

Am Anfang lief das Festival nur mit vom chinesischen Festland stammenden Filmen, heute aber ist es ein großes Forum für chinesischsprachige Filme (einschließlich Produktionen aus Taiwan und Hongkong) und internationale Titel. Laut seiner offiziellen Website investierte das Festival viel Energie in das Networking und knüpfte erfolgreich enge Verbindungen zu vielen ausländischen queeren Filmfestivals.

Dies muss ein wichtiges Überlebensmittel für das Festival gewesen sein, das vor vielen Herausforderungen stand und oft gezwungen war, sich einige Guerilla-Methoden auszudenken, um stattfinden zu können. Nach wiederholter Schließung durch chinesische Behörden entschieden sich die Organisatoren 2014 gegen Social-Media-Kampagnen und die Nutzung eines öffentlichen Kinos in China, stattdessen schickten sie kurz vor Beginn des Festivals eine E-Mail an mögliche Teilnehmer, zum Hauptbahnhof Peking zu gehen, ein Ticket für einen bestimmten Zug zu kaufen und sich in einem bestimmten Wagen einzufinden. Sie baten die Besucher, ihre Laptops mitzubringen. Am Ende wurden die Filme auf USB-Sticks bereitgestellt und das Publikum sah die Filme auf ihrem Laptop in den völlig beengten Wagons. Der Einsatz von gemeinsamen Laptops und USB-Sticks in ungewöhnlichen Räumen spiegelt nicht nur die Vielseitigkeit des Kinos und die Kreativität der Organisatoren wider, sondern auch das besondere Engagement und die Leidenschaft des Festivals. Die rhapsodische Vergangenheit des Festivals schien den Antrieb der Organisatoren zu verstärken, dafür zu sorgen, dass das Festival wieder stattfindet.

Das Beijing Queer Film Festival ist somit ein passendes Beispiel dafür, was das Herzstück eines jeden queeren Filmfestivals sein sollte: Liebe, Hingabe, Leidenschaft und Engagement.

Webseite: https://www.bjqff.com/

Neue Visionen und fließende Identitäten im Fokus

Zsombor Bobák im Gespräch mit Paz Lázaro und
Michael Stütz – Kurator*innen des Panorama. 

Im vergangenen Jahr hat sich das Panorama-Team deutlich verändert: Wieland Speck hat nach 25 Jahren einer neuen Generation von Kuratoren das Wort erteilt. Das 40-jährige Jubiläum der Sektion dieses Jahr bietet die perfekte Gelegenheit, die inspirierende Vergangenheit und damit die belebende Präsenz des Panoramas näher zu betrachten.

Ich habe mich mit den Kuratoren Paz Lázaro und Michael Stütz zusammengesetzt, um über die reiche Geschichte des Arthouse Abschnitts, ihre Schlussfolgerungen aus dem letzten Jahr, ihre Ansätze für dieses Jahr und ihre Ansichten über die Taktiken zum Schutz des queeren Filmerbes und des in den letzten Jahrzehnten aufgebauten globalen Netzwerks von queeren Filmfestivals zu diskutieren. Unsere lebhafte Diskussion beleuchtete die Triebkräfte des Panoramas und gab einen Einblick in das diesjährige spannende Programm.

Normal von Adele Tulli © FilmAffair

Das ist euer zweites Jahr als Leiter der Panorama-Sektion. Inwiefern war es anders als im letzten Jahr und welche Schlussfolgerungen konntet ihr aus dem Jahr 2018 ziehen, die euch bei der Vorbereitung auf die diesjährige Ausgabe geholfen haben?

Michael: Ich denke, das letzte Jahr war sehr erfolgreich. Ich war wirklich begeistert von dem Programm, weil es sehr spezifisch war. Außerdem hatten wir ein sehr markantes und radikales queeres Programm, auf das ich sehr stolz bin. Wir hatten einen großen Pool an Filmen zur Auswahl.
Paz: Ja, und das ist sehr wichtig, denn alles beginnt mit den Filmen. Wir werden nie ein vorgefertigtes Konzept haben, zuerst müssen wir die Filme finden – oder die Filme müssen uns finden. Aber das erste sind immer die Filme selbst. Das war unser Ausgangspunkt im vergangenen Jahr, genau wie dieses Mal.
Michael: Das letzte Jahr war sehr interessant, weil es eine so große Vielfalt gab, was zum Beispiel die Darstellung von People of Colour betrifft. Filme wie Bixa Travesty, Shakedown, Game Girls oder Tinta Bruta schufen neue Visionen und konzentrierten sich auf Lebensentwürfe und Milieus, die nicht so oft im Film dargestellt werden. Ich denke, wir konnten auch ein neues Publikum gewinnen, zum Teil wegen der Vielfalt des Programms. Wir haben viele positive Reaktionen erhalten.
Paz: Ja, und das war sehr ermutigend und bekräftigend. Mit unseren Instinkten lagen wir also letzten Endes nicht falsch. Es ist sehr wichtig für einen Kurator, gute Instinkte zu haben. Denn man kann nie wissen, wie die Filme oder Ihr Programm bei der Branche und dem Publikum ankommen werden. Man kann es nicht vorhersagen, man kann nur eine Intuition dafür haben.  Deshalb war es uns auch sehr wichtig, das Leben der Filme nach dem Festival zu verfolgen und wir sind sehr stolz darauf, dass sie so extrem erfolgreich waren.
Michael: Der TEDDY-Gewinner Tinta Bruta zum Beispiel ist wirklich von einem Filmfestivals zum anderen um die Welt gereist und hat viele Preise gewonnen. Am Ende des Jahres ist er auf vielen „Top 10“-Listen gelandet. Es war sehr gut zu sehen, dass der Film so gut aufgenommen wurde. Aber im Allgemeinen blieben die Filme das ganze Jahr über sichtbar, was nicht selbstverständlich ist. Dabei spielen viele verschiedene Faktoren eine Rolle. Ich denke, es spricht wirklich für ihre Qualität und ihren Kommentar zu sozialen und politischen Fragen. Das hatte viel mit den intersektionalen Ansätzen zu tun, die sie gewählt haben. Es waren nicht nur von der Suche nach Identität getriebene Stoffe, es wurden auch andere Themen eingebracht, die das Spektrum erweiterten. Das war sehr wichtig, und es war sicherlich ein Ziel, das wir hatten und immer noch haben. Aber jedes Jahr ändert sich etwas. Man weiß nie, was man entdecken wird und was im Programm landet.
Paz: Genau. Und in diesem Sinne war dieses Jahr ganz anders als das letzte, einfach weil die Filme so markant waren. Zum Beispiel hatten wir im vergangenen Jahr viele Filme zur Auswahl, in denen es um lesbische Thematiken ging – in diesem Jahr nicht.
Michael: Weil sie fast alle im Wettbewerbsprogramm gelandet sind!
Paz (lacht): Ja, wir sind ein wenig eifersüchtig. Aber natürlich freuen wir uns sehr für sie.
Michael: Und das ist das Schöne am TEDDY. Es gibt Filme aus allen Bereichen und wir freuen uns sehr, dass es in diesem Jahr so viele queere Inhalte beim Festival gibt.

Searching Eva von Pia Hellenthal © Janis Mazuch / CORSO Film

Wie habt ihr die Filme in diesem Jahr ausgewählt und was sind die wichtigsten Themen des queeren Programms?

Michael: Wir interessieren uns für Filme, die Grenzen überschreiten. Wir sind auf der Suche nach Filmen mit einer unverwechselbaren individuellen Stimme und einer einzigartigen Vision. Eine intersektionale Art des Erzählens und der Struktur ist uns ebenfalls sehr wichtig.
Paz: Teil der Arbeit ist es auch, sich verschiedene Filme anzusehen, denn es gibt viel zu lernen von dem, was in der Filmpraxis allgemein in einem bestimmten Jahr passiert. Alle Filme, die wir in diesem Jahr ausgewählt haben, haben ihre Brüder und Schwestern da draußen, die es aus verschiedenen Gründen nicht in unser Programm geschafft haben. Man könnte sagen, dass wir den Puls des Filmschaffens jedes Jahr abtasten. Und dieser Puls ist definitiv ganz anders als im letzten Jahr. Bei den queeren Materialien ist die sexuelle und geschlechtsbezogene Fluidität gerade bei jüngeren Generationen in den Mittelpunkt gerückt. Es ist alles sehr aufregend.
Michael: Ja, auch Bisexualität wird in den diesjährigen Filmen breiter diskutiert, was im Kino ziemlich selten ist. Es wird ein immer größeres Thema. Genauso auch die Fluidität, die Paz erwähnt hat. Und das tun sie, weil sie die Realität der Dinge widerspiegeln. Die Dinge sind nicht mehr so stark festgelegt wie früher für unsere Generation oder die Generationen davor. Es existiert mittlerweile eine völlig andere Herangehensweise an Identität und sexuelle Fluidität, und das alles spiegelt sich in den diesjährigen queeren Filmen wider.
Paz: Absolut. Die Filme stellen sehr wichtige und dringende Fragen. Warum muss ich mich definieren? Viele Filme beschäftigen sich in diesem Jahr mit dieser Frage. Das zu sehen, war sehr erfrischend. Vor allem, dass diese Filme geografisch betrachtet von sehr unterschiedlichen Orten stammen. Es scheint ein übergreifendes Thema zu sein, und ich freue mich sehr über diesen Trend.
Michael: Auch die Kritik und Herausforderung der Norm ist als Thema in diesem Jahr sehr ausgeprägt. Das hatten wir schon immer, aber gerade dieses Jahr liegt der Schwerpunkt darauf. Wie beispielsweise in Normal. Das ist kein klassischer, typisch queerer Film, überhaupt nicht.  Es ist ein Film, der binäre Geschlechtereinteilungen und Stereotypen dekonstruiert, indem er sich mit Ritualen beschäftigt, die wir in der Gesellschaft immer wieder durchführen und die als normales Geschlechtsverhalten betrachtet werden. Es wird untersucht, warum es in der Gesellschaft keinen Raum zwischen Hypermaskulinität und Hyperfeminität gibt, wie man entweder klar das eine oder das andere sein muss. Der Film ist sehr interessiert an diesem erzwungenen Binärsystem.
Paz: Der Film macht wirklich Spaß. Vor allem, weil der einzige Kommentar, den er anbietet, der Titel ist: Normal. Ansonsten beobachtet die Kamera lediglich und es ist das Publikum, das sich entscheiden muss, was es daraus machen soll. Und dann haben wir das genaue Gegenteil davon, eine Dokumentation namens Searching Eva. Eva ist ein absoluter Freigeist. Sie weigert sich, sich in irgendeiner Weise zu definieren. Sie erfindet sich jeden Tag neu, so wie sie es will. Identität erscheint als etwas, das formbar ist und mit dem man spielen und es so gestalten kann, wie man es möchte. Sie hat die Welt wirklich zu ihrem Zuhause gemacht. Dieser Film spielt zum Beispiel sehr offen mit den Ideen der Fluidität. Und das nicht nur in Bezug auf Eva, die Hauptfigur, sondern auch in Bezug auf die Welt um sie herum. Diese Filme bilden also die zwei gegenüberliegenden Seiten eines Spektrums. Und was dazwischen liegt, kommt aus den anderen Filmen.

Breve historia del planeta verde von Santiago Loza © Eduardo Crespo

Konntet ihr im diesjährigen Programm eine bestimmte queere Art des Filmemachens identifizieren?

Kislota by Alexander Gorchilin © Studio SLON / KislotaMichael: Wenn wir über Form sprechen, ist Searching Eva wieder ein perfektes Beispiel, weil es mit verschiedenen Arten von Formen spielt, es ist ein Hybrid. Es ist kein geradliniger Dokumentarfilm. Es gibt geskriptete Szenen, aber dann gibt es auch viel traditionelles dokumentarisches Material, wo der Film sich fast wie ein Tagebuch erzählt. Diese Formen gehen fließend ineinander über, sowohl die Visualisierung des Themas wie auch die Darstellung der Protagonistin.
Paz: Wichtig ist, dass queere Inhalte nicht nur narrativ sind. Sie sind viel mehr als das. Sie können aus der Form entspringen, aus dem Blick des Films, aus einer bestimmten Logik, die dem Film zugrunde liegt. Viele, viele Dinge können einen Film queer machen.
Michael: Ich denke, der formale Ansatz ist genauso wichtig wie die Aktualität eines Films. Die Art und Weise, wie die Kamera funktioniert, wie Körper dargestellt werden und wie Körperlichkeit in einem Film vermittelt wird, trägt zu seinen queeren Inhalten und Lesarten bei.
Paz: In diesem Jahr haben wir eine ganze Reihe von queeren Filmen in dieser Art. Acid, zum Beispiel. Der Film ist queerer, als er aussieht.
Michael: Er besitzt eine Liebe für Männlichkeit. Und vor allem für die gebrochene Männlichkeit, die er darstellt. Es geht ihm auch um fluide Sexualität, aber sie wird nicht betont, sie steht nicht im Mittelpunkt.
Paz: Und auch dort spielt der russische Kontext eine Rolle. Unterdrückungssysteme kommen zum Vorschein, aber queere Sexualität und ihre Spannungen bleiben im Hintergrund, sind jedoch auf sehr feinfühlige Weise allgegenwärtig. Es ist nicht das Hauptproblem, mit dem die Charaktere zu tun haben, es ist überhaupt kein Problem. Es wird sehr natürlich dargestellt, ist aber im Blick der Kamera sehr stark präsent. Ebenso könnten wir Family Members erwähnen. Er hat eine einzigartige Art, eine Geschichte zu erzählen. Niemand sonst könnte diese Geschichte so erzählen. Er erzählt sehr humor- und liebevoll, und obwohl die Sexualität und die körperlichen Sehnsüchte der Hauptfigur nicht die am stärksten betonten Elemente der Handlung darstellen, sind sie auf magische Weise sehr wichtig und sehr präsent während des gesamten Films. Und diese Filme sind der erste beziehungsweise zweite Film der Regisseure, was sehr vielversprechend ist.

Kislota von Alexander Gorchilin © Studio SLON / Kislota

In diesem Jahr wird das Panorama 40 Jahre alt. Wie hat sich das Panorama im Laufe der Jahre verändert? Was sind seine Kernwerte und sein Erbe?

Michael: Die Landschaften von Kino und Filmkultur haben sich in diesen 40 Jahren drastisch verändert, und damit auch die Sektion. Digitalisierung, Internet, Fernsehen, Vertrieb, die Art, wie Menschen auf Filme zugreifen – alles hat sich verändert. Für eine gewaltige Anzahl an Filmen sind Filmfestivals die einzige Möglichkeit der Distribution. Auch der filmische Output ist viel größer und vielfältiger. Natürlich gab es in diesen 40 Jahren so viele ikonische Filme, so viele Filme auch aus der New Queer Cinema-Bewegung, aber es gibt trotzdem mittlerweile eine größere Vielfalt. Die Grundwerte waren von Anfang an vorhanden. Was den TEDDY betrifft, war das in erster Linie die Notwendigkeit, innerhalb eines  A-Filmfestivals einen Raum für queere Filme zu schaffen.
Paz: Am Anfang funktionierte das alles mehr als ein Sicherheitsnetz. Wenn die anderen Sektionen nicht genügend queere Inhalte hatten, haben wir nachgeholfen. Inzwischen ist es ein organischer Prozess geworden. Panorama ist kein Wachhund über queere Inhalte mehr. Die Berlinale hat sich schon vor langer Zeit davon emanzipiert.
Michael: Ja, wir sind da sehr privilegiert. Diese Filme kommen und finden ihren Weg in das Programm auf ganz organische Weise. Das liegt natürlich auch daran, dass Wieland Speck und Manfred Salzgeber diese Bühne und Stimme und Aufmerksamkeit für die Filme geschaffen haben. Sie haben nicht nur einen Markt für diese Filme geschaffen, sondern auch ein Publikum, was eine immens wichtige Sache ist. Sie wussten, dass das Publikum da draußen ist. Wir befinden uns in einer so riesigen urbanen Landschaft wie Berlin, und Vielfalt ist natürlich da draußen, aber man muss die Menschen eben auch wachrütteln.
Paz: Es war für die beiden immer ein langfristiges Projekt. Sie wussten, dass dafür Zeit nötig ist und bauten es energisch auf, was wirklich einzigartig ist. Ich kenne kein anderes Festival, bei dem das so reibungslos ablaufen würde wie hier auf der Berlinale.
Michael: Eine weitere tolle Sache ist die Vielfalt, die damit einhergeht. Die Filme in den Sektionen Forum und Forum Expanded sind völlig anders als die im Wettbewerb, Generation oder hier im Panorama. Es gibt jedes Jahr eine sehr große Auswahl an queeren Filmen und dass das alles einfach so organisch geschieht, ist eine enorme Leistung. Es gibt eine Vielfalt an Narrativen, aber auch an Ästhetik und visuellen Ansätzen. Das ist auch etwas, was den TEDDY äußerst relevant macht.
Paz: Die bahnbrechende Vision von Manfred und Wieland wächst jedes Jahr und wird auf anderen Festivals adoptiert, was wirklich wunderbar ist.

A Dog Barking At The Moon von Zi Xiang © Acorn Studio

Anlässlich des Jahrestages der Sektion gibt es ein spezielles Panorama 40-Programm, das dieses Jahr kuratiert wurde und sich mit der Geschichte des Panoramas beschäftigt. Was kann ein Filmfestival wie die Berlinale tun, um das queere Filmerbe zu bewahren, dem das Panorama in diesen vier Jahrzehnten eine Plattform geboten hat?

Michael: Es ist eine sehr wichtige, aber auch schwierige Frage. Das Festival findet nur einmal im Jahr statt, was bereits ein Problem darstellt. In der Welt gibt es verschiedene Modelle. Einige Festivals haben ein eigenes Kino und programmieren ihre Filme das ganze Jahr über, sie bringen auch alte Filme zurück oder buchen sie später für eine ganze Kinolaufzeit. Wir haben diese Option nicht, also machen wir andere Sachen. Wir kuratieren zum Beispiel Programme für andere queere Filmfestivals und Initiativen.
Paz: Diese Frage stellt sich der TEDDY schon seit langem. Wie kann man ein Archiv für queere Filme aufbauen? Wie stellt man sicher, dass diese Filme ihren Platz haben und geschützt sind? Wie finden sie den Weg zurück zum Publikum? Und so hat die Queer Academy tatsächlich angefangen, das war die Grundidee dahinter.
Michael: Ja, die Idee und Plan für die Queer Academy sind schon länger vorhanden, aber es ist einfach keine leichte Aufgabe, ohne jegliche finanzielle Unterstützung ein lebendiges  Archiv aufzubauen. Das Arsenal zum Beispiel leistet wunderbare Arbeit in der Archivierung und Kuratierung, und sie haben viel queeres Material in ihrem Archiv.
Paz: Einen Treffpunkt für queere Filmfestivalprogrammer innerhalb eines der größten A-Filmfestivals bieten zu können, ist meiner Meinung nach sehr wichtig. Es ist eine gute Grundlage, um darauf aufzubauen. Es gibt viel zu tun, aber die Grundstruktur ist vorhanden und sehr solide.
Michael: Ja, wir wollten schon immer alle queeren Filmfestivals einbeziehen, denn – und das ist auch im Falle der Berlinale außergewöhnlich – das Netzwerk, das zwischen den queeren Filmfestivals und der Industrie und allen, die sich für solche Inhalte interessieren, aufgebaut wurde, ist ein überaus wichtiger Teil der globalen Pflege eines queeren Erbes. Letzten Endes ist es ein Treffpunkt für Programmer, Industrie und Publikum. Das ist ein ganz wesentlicher Teil und großer Vorzug. Aber wenn man nicht über die finanziellen Mittel verfügt, ist es schwierig. Man braucht die Leute, die es dann tatsächlich auf die Beine stellen werden, und letzten Endes ist es ein Luxus. Es ist sehr schwer, die finanzielle Unterstützung zu bekommen. Wir haben es viele Male versucht und bisher hat es nicht funktioniert. Aber wir werden nicht aufgeben. Das erfordert viel Aufmerksamkeit, viel Zeit, viel Konzentration.
Paz: Auch wenn man sich den European Film Market (EFM) einmal ansieht, sieht man, dass queeres Kino dort mit offenen Armen begrüßt wird. Das ist ein großer Bestandteil der Berlinale selbst. Die Industrie, die allein für den Markt und seine queeren Filme kommt, ist riesig. Das existiert sonst nirgendwo. Was Matthijs Wouter Knol für den EFM getan hat, ist bemerkenswert. Es gibt keinen anderen Filmmarkt auf der Welt, in dem es eine Person gibt, die speziell an Diversität und Inklusion arbeitet, wie Themba Bhebhe beim EFM. Was der EFM auf dieser Ebene geleistet hat, ist historisch einzigartig!
Michael: Und ich denke, es gibt kein anderes Festival, bei dem der Markt so eng mit dem Programmingteam zusammenarbeitet. Wir arbeiten wirklich Seite an Seite. Natürlich spielt der EFM eine entscheidende Rolle bei der lebendigen Verbreitung queerer Filme,was eben auch Teil der Arbeit ist, wenn es um den Schutz dieses Erbes und der queeren Filmkultur geht.

Die ungleiche Verteilung von queeren Filmfestivals und Filmtiteln auf der ganzen Welt ist immer noch ein dominantes Thema. Der Queer Academy Summit 2019 ist eine gute Initiative, um auch diese Problematik zu diskutieren. Networking und Zusammenarbeit scheinen der Schlüssel zur Lösung zu sein. Glaubt ihr, dass das die Zukunft des queeren Kinos ist?

Michael: Eine andere Art von Netzwerk und ein Modell für eine gleichmäßige Verteilung ist sehr wichtig. Wir versuchen, Programmer mit der Industrie zusammenzubringen. Aber das Ganze ist sehr komplex. Und als Programmer kannst du nur bis zu einem gewissen Punkt handeln. Jemand muss ab einem bestimmten Schritt die Führung übernehmen. Das ist ein großes Thema in der Filmfestivaltheorie, aber irgendwie schafft es das nicht in die Praxis. Das ist stark mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten verbunden. Die Kreativität, die Ideen, die Leidenschaft sind alle im Übermaß vorhanden, aber es braucht etwas, um sie zu katalysieren. Und im Moment wirft auch das Diktat des Filmmarktes einige Schwierigkeiten auf. Da gibt es sehr starre Verhältnisse, wahrscheinlich starrer denn je. Wenn man sich ansieht, welche Filme das meiste Geld reinholen…. das sind alles Franchises. Unabhängige queere Stimmen sind in diesem Umfeld in einer schwierigen Situation.
Paz: Auch die Vertriebslandschaft hat sich stark gewandelt. Neue Akteure wie Netflix oder Amazon haben das Ganze komplett verändert. Wir müssen uns dessen bewusst sein und darauf reagieren. Wir müssen mit diesem sich rapide verändernden Feld irgendwie Schritt halten. Als wir dieses Jahr in Toronto nach Filmen gesucht und Gespräche mit Leuten aus der Branche geführt haben, waren sich alle einig, dass sich das Spiel völlig verändert hat. Das ist nicht nötigenfalls schlecht oder gut, sondern bedeutet lediglich, dass wir uns in einer neuen Situation befinden, die natürlich neue Herausforderungen mit sich bringt. Wir sind alle neugierig, wohin das alles führt, aber sicherlich wird es auch Auswirkungen auf die Verbreitung queerer Titel haben. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es positive Auswirkungen sein werden.

Greta von Armando Praça © Aline Belfort

Letztes Jahr sagte eine Freundin von mir, dass sie das Panorama und innerhalb des Panoramas den TEDDY besonders mag, weil es eine Sektion mit Persönlichkeit ist, die den Zuschauer direkt anspricht. Was ist der Schlüssel zum Erfolg des Panoramas, sich so gut mit dem Publikum zu verbinden?

Michael: Es ist auch historisch so gewachsen. Manfred und Wieland haben für diese Filme ein Publikum geschaffen und vor allem darin liegt der Schlüssel.
Paz: Wir haben einen Publikumspreis, das Publikum fühlt sich sehr sichtbar und integriert. Wir haben Q&As, die sehr lang sind, aber die Leute bleiben gerne. Und das ist eine ziemlich große Sache! Während eines Festivals hat jeder sehr volle Zeitpläne, die Leute müssen immer zur nächsten Vorstellung rennen, oder Essen holen, oder was auch immer. Aber die Leute bleiben für Q&As und beteiligen sich und ich denke, das hat große Wirkung. Wir sind auch sehr präsent.
Michael: Ja, die Leute wollen sich beteiligen. Und das hat viel mit dem Programm zu tun. Verschiedene Arten von Visionen, Erzählungen, Orten und Perspektiven können hier entdeckt werden. Die eigene Perspektive wird oft in Frage gestellt, was das gesamte Publikum anspricht. Das Berliner Publikum ist in der Regel sehr gebildet und politisch, sie sind sehr aktiv. Sie wollen nicht die ganze Zeit überflüssiges Zeug sehen. Sie wollen etwas lernen und sie wollen etwas sehen. Deshalb haben wir diese Mischung, dass neue Visionen und herausforderndes Material präsentiert werden, die aber trotzdem zugänglich sind.
Paz: Wir sind da, wir sind greifbar. Wir verstecken uns nicht im Glamour. Es ist ein Festival, bei dem alle auf Augenhöhe präsent sind: Programmer, Industrie, Presse, Publikum, alle.
Michael: Allerdings. Es ist einfach alles sehr zugänglich. Für alle Menschen – nun, das wäre nicht ganz richtig. Man muss für die Tickets bezahlen, man muss Englisch verstehen, aber trotzdem, vor allem im Vergleich zu anderen Festivals, ist es für das Publikum sehr zugänglich.
Paz: Filmemacher sind auch sehr offen und wollen ihr Publikum kennenlernen. Sie mögen es, sich mit ihnen zu beschäftigen und sie freuen sich darauf! Auch in diesem Sinne ist unser Budget sehr begrenzt. Aber trotzdem leistet das Team hervorragende Arbeit und die Filmemacher sind daran immer beteiligt. Es ist einfach ein Teil der Panorama-DNA. Keiner scheut irgendwelche Mühen, um die Dinge möglich zu machen. Es ist eine Leidenschaft, die wir teilen, und die dabei hilft, unsere Grenzen zu überschreiten. Das haben wir von Anfang an gelernt, und das geht wiederum alles auf die fantastische Arbeit von Manfred und Wieland und die enorme Arbeit des Panorama-Teams zurück. Irgendwie ist es einfach nie eine Frage. So funktioniert das Panorama eben.

Eine sehr fantastische Frau gewinnt einen Oscar

Anlässlich der 90. Oscarverleihung am vergangenen Sonntag wurde „Una Mujer Fantástica“ (Eine fantastische Frau) mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Der Film, der 2017 mit dem TEDDY AWARD für den besten Spielfilm ausgezeichnet wurde, ist das Werk des chilenischen Regisseurs Sebastián Lelio. Der Oscar für einen nicht-englischsprachigen Film wird seit 1956 vergeben und „A Fantastic Woman“ ist in vielerlei Hinsicht ein Meilenstein; Es ist der erste chilenische Film, der mit dem fremdsprachigen Oscar ausgezeichnet wurde, der erste Film mit einem trans themenbezogenen Plot, der den Preis mit nach Hause nimmt, und Hauptdarstellerin Daniela Vega ist die erste offene transgender Person, die bei der Preisverleihung derOscars einen Preis auf der Bühne überreicht. Sebastián Lelio lobte Daniela Vega als „Inspiration für diesen Film“.

Die Geschichte folgt Marina (Daniela Vega), einer Transfrau, die als Kellnerin arbeitet und eine liebevolle Beziehung zu Orlando (Francisco Reyes) hat, einem geschiedenen Mann, der 30 Jahre älter ist. Ihre liebevolle Liebe wird am Tag des plötzlichen Todes von Orlando abrupt beendet. Nach dieser Tragödie sieht sich Marina mit dem Hass von Orlandos Ex-Frau und Kindern konfrontiert. Sie kämpft gleichzeitig für ihr Recht, ihren Geliebten zu betrauern und gegen die Vorurteile und Schikanen der Familie ihres verstorbenen Liebhabers. Der Film gibt nicht nur eine einfühlsame Darstellung des universellen Rechts auf Trauer, sondern erzählt auch die intime Geschichte einer Trans-Frau im heutigen konservativen Chile. Auf einer breiteren Ebene beleuchtet der Film die Transphobie und Ignoranz, die für viele Transpersonen auf der ganzen Welt den Alltag ausmachen. Nur wenige können das Kino unbeeindruckt von dieser berührenden Geschichte von Liebe und Verlust verlassen.

Um mehr über den Film zu erfahren geht am besten in das nächste Kino in dem er läuft. Bis dahin schaut einfach mal in das Interview mit Regisseur Sebastián Lelio und den Hauptdarsteller*innen Daniela Vega und Francisco Reyes: https://www.youtube.com/watch?v=Q9VQLBKaP9Q