Heute ist ein Tag für die Wagemutigen, denn wir haben eine Reihe von Prämieren bekannter Regisseure experimenteller Filme im Programm. Jerry Tartaglia blickt in ‚Escape From Rented Island‘ auf das Werk von Jack Smith zurück, Irene Lusztig lässt in ‚Yours in Sisterhood‘ die Stimmen von Schriftstellerinnen aus den 70er Jahren mit denen von Frauen aus der heutigen Zeit ineinanderfließen und Barbara Hammer setzt in ‚Evidentiary Bodies‘ durchsichtige Bewegtbilder von Körper, abgebildet auf Filmrollen, ein, um die verschiedenen Zyklen von Leben und Tod eines Körpers zu erkunden. All diese Filmemacher hier behandeln die Notwendigkeit von Archivierung, stellen unsere Arten zu dokumentieren infrage und erhalten die Sichtbarkeit von Gemeinschaften, die in der Vergangenheit in die Schattenseiten unserer Geschichte verbannt wurden.
Der TEDDY AWARD selbst engagiert sich durch seine Partnerschaft mit der Queer Academy für den Erhalt queerer kultureller Erinnerungen. Besucht die Internetseite der Queer Academy und taucht ein in die Geschichte des LGBT-Films: https://queeracademy.net.
Viel Spaß am heutigen Filme-Mittwoch!
Escape From Rented Island: The Lost Paradise of Jack Smith
Director: Jerry Tartaglia
Akademie der Künste, 21:30
Jerry Tartaglia, langjähriger Archivar und Restaurator des filmischen Nachlasses der queeren New Yorker Underground-, Experimentalfilm- und Performance-Legende Jack Smith, widmet sich in seinem Essayfilm weniger dem Leben, als dem Werk Smiths und fächert dessen ästhetische Idiosynkrasien in 21 thematischen Kapiteln auf. „Escape From Rented Island: The Lost Paradise of Jack Smith ist ein Essayfilm über das Werk
des Künstlers und weniger ein Dokumentarfilm über dessen Leben. Er bietet also keine rationale, lineare und distanzierte Erklärung seines Werks. Vielmehr ist das Publikum aufgefordert, Jack Smiths ästhetische Entscheidungen ganz unvoreingenommen zu erleben. Meine Strategie ist eine Herausforderung für die Zuschauer*innen, besonders für jene, die in Dokumentarfilmen gern erklärende Kommentare hören oder zusätzliches, extradiegetisches Material präsentiert bekommen. Wer Jack Smiths unverwässerte Vision nicht erträgt, darf von mir keine Entschuldigung erwarten – lediglich eine Einladung, ihn in sein verlorenes Paradies zu begleiten.“
Evidentiary Bodies
Director: Barbara Hammer
USA 2018, 10′, Without dialogue
Kino Arsenal 1, 15:30
Auch ein Leben, das zwischen den Perforationen eines Filmstreifens abläuft, kann tanzen. Die Schönheit des menschlichen Körpers, sei er auch versehrt, tanzt weiter. Hoffnung lebt nicht ewig, sondern täglich. Ein Publikum, versunken in drei Leinwände, spürt die Umklammerung der Krankheit, die Isolation des physischen Körpers. Die endlose Filmschleife läuft, doch sie kann der Protagonistin keinen Halt geben. Die Zeit
ist dehnbar, der Körper verändert sich und der Film beginnt erneut. Eine Trilogie des Selbst, Zeugin von Verfall und Leid, das Undenkbare vollbringend, unaufhaltsam, ein Totentanz. Drei umgibt, umschließt, umarmt die Eine, die nicht für sich stehen kann. Wir – menschliche Wesen auf einem kleinen Globus, vereint durch evolutionäre Struktur und biologische DNA – haben die Chance, durch Empathie und Identifikation mit dem empfindsamen Körper zueinanderzufinden. Ein unausgesprochenes Plädoyer an die Zuschauer*innen, Mitgefühl zu spüren, Verletzlichkeit zuzulassen, die Evidenz des Körpers zu erkennen, eines Körpers, der auch ihr eigener Körper ist.
Tuzdan kaide (The Pillar of Salt)
Director: Burak Çevik
Turkey 2018 70′, Turkish
CineStar 8, 16:30
Eine schwangere junge Frau, die in einer Art Höhle lebt, sucht ihre verschwundene Schwester. Reiz, Reichtum und Radikalität dieses ersten Langfilms von Burak Çevik sind mit diesem Handlungsfaden nur unzureichend beschrieben. Sie liegen vielmehr in der Freiheit, die er sich nimmt, um für seine Erzählung eine extravagante Filmwelt zu erschaffen. Aus der fast an ein Märchen erinnernden Höhle setzt die Protagonistin über einen Fluss und nimmt die Spur ihrer Schwester auf. Die führt sie in einen botanischen Garten, eine Vogelhandlung, eine Dunkelkammer. Die Fotolaborantin vergleicht den Effekt von Fotografien damit, wie Gott Lots Frau zur Salzsäule erstarren ließ, weil sie der Versuchung, sich umzudrehen und Sodoms Zerstörung anzuschauen, nicht widerstehen konnte. Für die Ewigkeit festgehalten, in Ewigkeit erstarrt – muss man es also für bare Münze nehmen, wenn die Protagonistin der Bootsfrau erzählt, sie sei eine Teilzeit-Vampirin? Die Versonnenheit, mit der der Film abschweift und uns Pflanzen, einen Negativstreifen, oder ein Tischtennismatch zeigt, trägt erheblich zu dem Sog bei, den er entfaltet. Dabei bleibt manches rätselhaft und macht auf mögliche Referenzen umso neugieriger.e
Yours in Sisterhood
Director: Irene Lusztig
USA 2018 101′, English
Delphi Filmpalast, 18:45
Atlanta, vor einer Tankstelle an einer kleinstädtischen Straßenkreuzung. Bowling Green, Kentucky, auf einem Privatanwesen mit perfekt gepflegtem Rasen. Ein Garten vor einem Einfamilienhaus in Connecticut. Auf den ersten Blick sind es unscheinbare Orte, an denen Irene Lusztig auf ihrer zweijährigen Reise durch die USA mehrheitlich Frauen bittet, Leserbriefe vorzulesen und zu kommentieren, die aus dem Archiv der liberal- feministischen Zeitschrift „Ms.“ stammen. Geschrieben vor ungefähr 40 Jahren, zumeist von Frauen, die in der Zeitschrift erschienene Artikel zum Anlass nahmen, von sich zu erzählen – offenherzig, privat, oft erleichtert, manchmal erbost. In den Briefen geht um Schwangerschaftsabbrüche, um lesbische Liebesaffären von verheirateten Frauen, um die Ignoranz des Magazins gegenüber Lebenswirklichkeiten schwarzer Frauen… Irene Lusztig gelingt es in ihrer dokumentarischen Inszenierung, einen Fundus der Frauenbewegung von damals in eine vielschichtige Beziehung mit der Gegenwart zu bringen. Das Wort steht dabei nur vermeintlich im Vordergrund. Dem Publikum ist es überlassen, einen feministischen Kosmos zu entdecken, den Yours in Sisterhood auf vielen Ebenen zugänglich macht.