“Ich sehe mich nicht als schwulen Flüchtling“
Dies bemerkt Mahmoud Hassino beiläufig in den ersten Minuten unseres Gesprächs. Oscar und ich schauen einander fragend an: Mahmoud ist ein Mann, der sich mit der Gründung des ersten schwulen syrischen Blogs Mawaleh, mit seiner Hauptrolle in dem Dokumentarfilm Mr Gay Syria und durch seinen unermüdlichen Kampf für LGBT- und Flüchtlingsrechte einen Namen gemacht hat. Wie kann er also den Begriff „schwul“ so leicht verleugnen, wenn dieser eine so wichtige Grundlage für den Aktivismus, auf dem sein Asylrecht beruht, darstellt? Die Antwort ist, dass es sich nicht um eine Ablehnung seiner homosexuellen Identität handelt, sondern um eine ermächtigte Entscheidung, die eigenen Identitätsbegriffe selbst zu wählen, anstatt sie sich aufzwingen zu lassen: “Homosexualität ist nur irgendeine Sache, irgendein Teil meiner Identität… Wir haben viele Möglichkeiten, uns vorzustellen; ich kann mich als Journalist oder Blogger oder Schriftsteller bezeichnen. Manchmal wählst du etwas, das notwendiger ist.”
Er erweitert diesen Gedanken und erinnert sich an seine Zeit in Damaskus, als die Proteste gegen das Regime von Bashar al-Assad ausbrachen. Mahmoud betont, dass dies eine Zeit war, in der das Label “schwul“ überaus notwendig war: “Als [die Demonstrationen in Syrien] begannen, habe ich mich jedes Mal mit ‘Hallo, ich bin Mahmoud, ich bin schwul.’ vorgestellt. Es war sehr wichtig hervorzuheben, dass auch Homosexuelle eine Regimeänderung brauchen… Jetzt gerade finde ich es nicht notwendig, diese sexuelle Orientierung zu erwähnen. Sie ist da, Menschen wissen davon, aber jetzt denke ich nur: ‘Ich bin ein Flüchtling in Deutschland’”. Die Entscheidung, bestimmte Aspekte einer Identität hervorzuheben, ist Teil dessen, was er „lernen, Kennzeichen zu verwenden“ nennt, wobei man Identitätspolitik einsetzt, um „etwas zu befürworten“. Sie stellt einen Machtkampf der sprachlichen Begriffe dar und weist auf die umfangreiche Bedeutung hin, die Mahmoud der Sprache beimisst, damit marginalisierte Personen eine Identität behaupten und ausdrücken können.
Mahmouds Lebensgeschichte ist eine Geschichte des endlosen Wandels. Aufgewachsen in Saudi-Arabien, studierte Mahmoud in Syrien und flüchtete zuerst in die Türkei und zuletzt nach Berlin. Mit dieser konstanten geografischen Migration kommt die Notwendigkeit einher, eine Identität in einer Vielzahl verschiedener Sprachen und Kulturen zu finden, von denen einige zuvorkommender sind als andere. Während Homosexualität in der EU seit 2011 eine rechtliche Grundlage für Asyl ist, fehlt es laut den Erfahrungen von Mahmoud und seinen Klienten an Leitlinien für die Interviews der Asylantragstellung. Zwei EU-Richtlinien aus 2013 verpflichten die EU-Mitgliedstaaten zur Ausbildung von Asylbeamten und zur Bereitstellung angemessener Aufnahmebedingungen für LGBT-Personen, obwohl nur wenige Mitgliedstaaten spezifische nationale Richtlinien für die Befragung von LGBT-Personen haben. In der Praxis sind viele Personen, die diese Interviews leiten und übersetzen, schlecht mit dem Vokabular und der Sensibilität ausgestattet, die für die Diskussion der LGBT-Identität erforderlich sind.
Mahmoud erinnert sich an sein eigenes Interview, in dem er seine sexuelle Orientierung beschrieb: Als er zum ersten mal einem männlichen Übersetzer erklärte, dass er schwul sei, lautete die Antwort des Übersetzers: „Was ist das?“, bevor er ohne Erklärung fortging. Mit dem nächsten Übersetzer, diesmal eine Frau, versuchte er es auf Arabisch („Mithlī“), dann auf Englisch („homosexual“) und schließlich auf Deutsch („schwul“). Ihre einschlägige Antwort, sobald sie seine Bedeutung endlich verstanden hatte, war zu bemerken, dass „du nicht wie einer aussiehst“.
Unter den Übersetzern und Bürokraten, aber auch unter vielen Asylsuchenden, gibt es Lücken in der Wortwahl und im Bewusstsein der LGBT-Identität. Mahmoud erklärt, dass in einigen Ländern, in denen Homosexualität kaum wahrgenommen oder toleriert wird, sich manche Menschen nicht mit den recht „verwestlichten“ Begriffen „schwul“, „lesbisch“ oder „trans“ identifizieren. Darüber hinaus agieren innerhalb der LGBT-Gemeinschaft Privilegstrukturen, was bedeutet, dass in Asylbefragungen „selbst schwule Männer vom Patriarchat profitieren” und oft weniger aufdringlichen Fragen unterworfen sind als beispielsweise eine Transfrau. Mahmouds eigene Arbeit mit Übersetzern und auch gemeinsam mit der Schwulenberatung – eine Beratungsstelle in Berlin, die LGBT-Menschen, einschließlich Geflüchteten, Beratung, medizinischen Rat und Unterkunft bietet – ist Teil eines größeren Engagements zur Bereitstellung der notwendigen Sprache und Kommunikation für Flüchtlinge aller Geschlechter und sexueller Identifikation.
Die Schwierigkeiten sprachlicher Identifizierung und Ausdrucks in der Asyl-Phase setzen sich im Integrationsprozess fort. Wie beginnt man, die Erfahrung von emotionalem, physischem und geographischem Aufruhr in der Asylsuche in einer Sprache zu vermitteln, die einem nicht eigen ist und die oft als Mittel benutzt wird, um die Flüchtlingsgemeinschaft zu erniedrigen, herabzusetzen und auszuschließen? Mahmoud zitiert die von Europäern häufig verwendete Formulierung gegenüber Flüchtlingen: „Oh, aber zumindest bist du jetzt in Sicherheit“. Er wird zunehmend empört und fordert: „Definiere Sicherheit. Was ist Sicherheit für dich? Definiere ‘sicher’ aus deiner Perspektive und du wirst feststellen, dass Menschen mit Flüchtlingsstatus es nicht sind. Sie leben in ständiger Angst.“ Er weist darauf hin, dass selbst dann, wenn ein Geflüchteter in einem angeblich „sicheren“ Land eintrifft, der Flüchtlingsstatus gemäß den syrischen subsidiären Schutzgesetzen innerhalb von drei Jahren jederzeit widerrufen werden kann. Das Wort „sicher“ und Sprache im Allgemeinen ist so migrant wie die Menschen, die es benutzen. Bedeutungen verschieben sich nach individuellen Erfahrungen und für einen Flüchtling wie Mahmoud ist diese „Last“ von Erfahrungen „nicht leicht loszuwerden“. Wenn Worte versagen, wendet sich Mahmoud dem Lachen zu; er ist gut gelaunt und voller Witze, trotz der oft tristen Themen, die wir diskutieren. Es scheint seine Art zu sein, die Verletzung rassistischer und homophober Beschimpfungen zu bewältigen und die Kämpfe der sprachlichen und sozialen Zugehörigkeit zu überwinden.
Mahmouds Aktivismus begann mit der geschriebenen Sprache, indem er Syriens erstes LGBT-Online-Magazin gründete. Inzwischen hat er sich jedoch dem Medium Film zugewandt, um die Erfahrungen von LGBT-Flüchtlingen zu präsentieren. Der Dokumentarfilm Mr Gay Syria, unter der Regie der türkischen Filmemacherin Ayşe Toprak, folgt Mahmoud und seinem Landsmann Hussein bei ihrem Versuch, an einem internationalen Schönheitswettbewerb teilzunehmen. Was waren Mahmouds Motive hinter dem Dokumentarfilm? „Sichtbarkeit. Ich bin es leid, dass Leute „schwul Syrien“ googlen und mein Name auftaucht. Das ist alles.“ Diese Absichten sind sicherlich erfüllt worden; der Film hat das Profil der syrischen homosexuellen Identität deutlich erhöht und fand großen Erfolg. Er ist mit dem Grand Prix des Festivals Chéries-Chéris Paris, dem Best European Documentary des Tirana Film Festivals und dem Best Human Rights Film des Verzio Film Festivals in Ungarn ausgezeichnet worden. Die Idee kam ihm nach einem jovialen Twitter-Austausch mit dem Veranstalter des Mr. Gay World-Wettbewerbs und es brauchte einige Überzeugung, um Ayşe dazu zu bringen, die Idee zu verfolgen. Auch die Finanzierung war ein großes Hindernis: „Niemand war bereit, einen syrischen Film mit LGBTQ-Fokus zu finanzieren. Es gibt diesen strukturellen Rassismus in den Finanzierungs-Körperschaften“, erklärt Mahmoud. Ein Film, der außerhalb Europas spielt, mit syrischen Protagonisten und einer türkischen Regisseurin, ist dem Eurozentrismus, Rassismus und der Frauenfeindlichkeit ausgesetzt, die in der Filmindustrie leider weit verbreitet sind.
Ist er der Ansicht, dass sich die Finanzierungstrends nach dem Erfolg von Mr Gay Syria ändern könnten? Seine Antwort ist eindeutig: “Wenn Ayşe versucht, einen weiteren Dokumentarfilm zu drehen, wird sie die gleichen Probleme haben.” Im diesjährigen Berlinale-Programm steht derzeit nur ein Film über das Leben von Flüchtlingen – Zentralflughafen THF, der den Erfahrungen der Bewohner der Notunterkunft im Berliner Flughafen Tempelhof folgt – und dieser ist tatsächlich von einem männlichen Regisseur und spielt in Europa. Das soll den Film nicht diskreditieren, sondern lediglich Mahmouds Standpunkt verdeutlichen. Genauso wie LGBT-Flüchtlinge einem endlosen Kampf ausgesetzt sind, sich in einer gesprochenen Sprache wohl zu fühlen und zu identifizieren, stehen sie auch vor der Herausforderung, durch die visuelle Sprache des Films repräsentiert zu werden. Mr Gay Syria wird im März in Berlin zu sehen sein – allein den Film zu schauen wäre ein Schritt zur Anerkennung der einzigartigen Sprache der LGBT-Flüchtlings-Kinematographie.
Film Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=MayoAfj4djQ
Mawaleh: https://mawaleh.net
Schwulenberatung: https://www.schwulenberatungberlin.de